Der Nazistaat, wie Golo Mann ihn in seinem Werk „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ zurecht nennt, ist ein Erbe jeder Familiengeschichte, die in Deutschland spielt. So ist der Nazistaat auch ein Teil meiner Familiengeschichte. Und in diesem schwierigen Teil der Geschichte, dem man sich offen stellen muss, bleibt die Frage danach, was unsere Familie gewusst hat, was sie getan hat und wie sie dem Nazistaat gegenüber stand. Mit diesem Erbe will ich mich in diesem Artikel auseinandersetzen. Um das Thema verständlich zu machen, ist ein Vorwort von Nöten, dass Rahmenbedingungen der Vergangenheit verständlich macht.
Vorwort
Ich wurde 1972 geboren, als meine Eltern mit einem Kind schon nicht mehr rechneten. Meine Mutter war fast 39 Jahre alt, mein Vater 42 Jahre. Wenn man auf die Geburtsjahrgänge schaut, so sind meine Mutter 1934 und mein Vater 1930 geboren. Beide hatten eine Kindheit im Nazistaat, die mit dem Krieg ihr Ende fand. Der Krieg spülte den Nazistat weg, aber auch die Kindheit meiner Eltern. Der Krieg war im Mai 1945 endgültig vorbei, auf dem Papier vorbei, aber nicht für meine Eltern vorbei. Der Krieg verfolgte meine Eltern zeitlebens und war auch für mich immer präsent. Hierzu kommen wir noch ausführlicher. Zuerst aber werfen wir einen Blick in die 1930er Jahre.
Meine Mutter erzählt oft Geschichten von Ihrer Oma, was meine Uroma gewesen wäre, wenn ich sie noch kennengelernt hätte. Diese lief als Kind hinter der Kutsche des Reichskanzlers Bismark hinterher, wenn er die Familie von Blankenburg besuchte. Der Reichskanzler besuchte dort regelmäßig Marie von Thadden-Trieglaff, die mit dem Gutsbesitzer Moritz von Blankenburg verheiratet war. Meine Mutter wurde in einem kleinen Dorf in Pommern namens Zimmerhausen geboren, das in unmittelbarer Nähe des Schlosses der Familie von Blankenburg liegt. Ihre Oma sah noch regelmäßig den Reichskanzler Bismarck und war ein Kind des Kaiserreichs. Diesen Zeiten sind wir noch nahe.
Mein Vater erzählt von seinem Vater, meinem Opa, den ich auch noch kennengelernt hatte, wie dieser im ersten Weltkrieg Marinesoldat war. Mein Opa hatte dabei so etwas wie „Glück im Unglück“. Er gehörte zur Besatzung des Panzerkreuzers Blücher, eines der wenigen Schiffe, die im ersten Weltkrieg in eine Seeschlacht gerieten und versenkt wurden. Mein Opa ist mutmaßlich einer der kleinen Punkte, die sich auf dem Bild panisch an den sinkenden Schiffskörper klammern. Er hat den Untergang überlebt, wurde von einem englischen Schiff aus dem Wasser gezogen und kam in Kriegsgefangenschaft. Diese Zeiten waren noch ganz nah und noch näher die große Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre. Mein Opa war aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, hatte meine Oma geheiratet und einen Bauernhof gekauft. Die Heirat war von den Eltern arrangiert und meine Oma erzählte nur all zu gerne, dass sie lieber jemand anderen geheiratet hätte. Für den Bauernhof hatten sich meine Großeltern hoch verschuldet. Dann kam die Hyperinflation und Oma zahle den ganzen Bauernhof mit einer Riege Eier ab. Das waren die Zeiten, die noch ganz nahe waren als meine Eltern geboren wurden.
Kindheit im Nazistaat
Meine Mutter wurde also in einem kleinen Dorf nahe des Schlosses der Familie von Blankenburg geboren, für welche ihre Mutter arbeitete. Und eigentlich arbeitete jeder mehr oder weniger für den Gutsbesitzer, wie meine Mutter pflegt ihn zu nennen. Der Gutsbesitzer, wir nennen ihn fortan dann auch so, hatte als einziger ein Auto. Ende der 1930er Jahre kaufte noch ein reicher Kaufmann ein Auto, was ganz offensichtlich ein beeindruckendes Erlebnis gewesen war. Allerdings kam dann bald der Krieg und die Reifen mussten abgegeben werden, was das Staunen über ein Auto aber nicht minderte. Ein Zug fuhr von der nächsten Kreisstadt „Plate“ zur nächst größeren Stadt „Regenwalde“. Damit war meine Mutter mehrmals zu Ihrer Tante gefahren, was für ein Kind vom Dorf damals sehr aufregend gewesen war.
Mein Vater wurde auf einem Bauernhof groß. Die Gemeinde bestand aus zwei handvoll Bauern, alle auf einzeln verteilten Höfen. Das Bauerndorf, nennen wir es mal so, wurde von meinem Opa als Bürgermeister regiert. Das bedeutete schon etwas, Mein Opa wusste damit schon mehr als andere. Aber er war weit weit weg von der Macht und daran auch wenig interessiert. Man interessierte sich für die Ernte und darum, wie man genug zu Essen hat und irgendwie über die Runden kommt. Alles andere war für die Familien meiner Eltern zweitrangig.
Meine Mutter, auch das will ich nicht verschweigen, war ein uneheliches Kind und wuchs ohne Vater auf. Das war in der damaligen Zeit eine Schande und wurde von meiner Mutter auch immer so empfunden. Von den anderen Kindern im Dorf und der eigenen Familie wurde es offensichtlich weniger schlimm als von meiner Mutter empfunden. Der Vater war aber bekannt. Er hatte meiner Oma die Heirat versprochen, hatte es aber dann doch nicht getan und ließ sie schwanger zurück. Er wurde von meiner Oma angezeigt und ein Antrag auf Unterhalt, das gab es damals schon, gestellt. Die Verwaltung fand ihn, er musste zahlen und zahlte auch. Für meine Mutter war ihr Vater immer ein Verräter, ein ganz böser Mensch und sie hasste ihn. Nach dem Krieg, sie kannte seinen Namen und Anschrift, hätte sie ihn suchen und treffen können, doch das wollte sie nie.
Mein Vater war Bauernjunge durch und durch. Er hatte einen Hund. Hinter dem Wohnhaus war ein See, auf dem er im Winter Schlittschuh lief. Es gab einen zwar kleinen, aber eigenen Wald. Aus dem Wald holte man sich im Winter einen Weihnachtsbaum her. Kaufen musste man den Baum nicht. Man führte ein Leben in gehobenen Wohlstand. Jedenfalls auf einem ganz anderen Niveau als meine Mutter, die mehr oder minder im ständigen Überlebenskampf lebte. Es gab bei meinem Vater so gar schon einen Fotoapparat und man machte Bilder von ganz alltäglichen Dingen. Leider sind durch den Krieg nicht alle Bilder erhalten. Der Mittelpunkt war der Betrieb des Hofes, bei dem mein Vater mithelfen musste, was ihm auch immer Spaß gemacht hat.
Schule im Zeichen des Nazistaats
Mein Vater erzählte wenig. Das meiste weiß ich von meiner Mutter. Mein Vater war auf einer eigenen Schule, die aber nicht viel anders gewesen sein dürfte als die meiner Mutter. Eigentlich gab es gar keine richtige Schule. Es war ein Gebäude mit einem Lehrer. Der Lehrer wohnte in der Schule. Als Strafarbeit oder wenn es Not tat, machten die Kinder nach dem unterricht den Garten des Lehrers. Das war selbstverständlich und gehörte quasi zum Unterricht dazu. Der Lehrer unterrichtete alle Klassen in einem Raum zusammen. Und weitaus mehr als nur 25 Kinder. Disziplin war Pflicht. Wer sie nicht einhielt, bekam was an die Ohren. Und zwar im wörtlichen Sinne. Meine Mutter erzählt viele Geschichten, wo sie nur einen kleinen Fehler gemacht hatte, und dann vom Lehrer geschlagen wurde. Der Lehrer hieß „Herr Kaseloh“ und war sehr streng. Er schlug mit dem Stock als auch mit einem Stapel Heften oder schlichtweg mit dem, was er gerade in der Hand hatte Das war damals normal.
Zum beginn des Unterrichts grüßte man mit „Heil Hitler“. Und es wurde viel Propaganda für den Nazistaat gemacht. Der Lehrer meiner Mutter war Nazi durch und durch, wie sie selbst immer betont. Einmal traf sie ihn nach einem Einkauf mit beiden Händen voll mit Körben. Am nächsten Morgen in der Schule bekam meine Mutter sofort „eine geknallt“. Sie fragte, was sie getan hätte und der Lehrer erklärte ihr, dass sie am Vorabend hätte die Körbe abstellen und ihn korrekt mit „Heil Hitler“ grüßen müssen, nicht nur mit den Worten, sondern auch mit dem ausgestrecktem Arm. So wurde der Nazistaat den Kindern verinnerlicht.
In der Schule wurde auch vermittelt, dass Hitler das Gute für das Land ist, dass er Autobahnen baut, dass er den Menschen Arbeit bringt und dass er Wohlstand schafft. Das war so tief in meine Mutter hinein propagiert worden, dass sie zeitlebens mit dem Dilemma der späteren gegenteiligen Sichtweise auf Hitler kämpft. Was ist wahr? Ist Hitler das Gute gewesen oder das Böse? Ein Zwiespalt in meiner Mutter, den sie nie auflösen konnte. So wirkte die Propaganda des Nazistaats in ihr nach.
Hitlerjugend
Auf dem Land war vieles anders. Es gab die Hitlerjugend. Aber sie war bei weitem nicht so ausgeprägt wie in den Städten. Die Kinder mussten vor allem in den Familien helfen und hatten dafür nicht die Zeit, wie sie Stadtkinder hatten. Und es waren schlichtweg auch einfach zu wenige Kinder auf zu großem Gebiet. Das spielte auch eine Rolle. Aber gegeben hat es die Hitlerjugend auch in Pommern. Meine Eltern waren dafür noch zu klein, so dass sie nicht Mitglied waren. Als meine Eltern älter wurden, gab es mit dem Krieg andere Prioritäten.
Meine Mutter hatte aber eine gewisse Neigung in die Hitler Jugend eintreten zu wollen. Sie hat davon manchmal erzählt. Sie wollte dazugehören. Das war ihr Anliegen. Die Gemeinschaft war ihr wichtig, nicht das Gedankengut. Davon verstand sie als kleines Kind eh nicht viel. Ihre Mutter, meine Oma, war jedoch strikt dagegen und in keiner Weise Nazi. Sie hätte meine Mutter nie beitreten lassen. So berichtet jedenfalls meine Mutter.
Bei meinem Vater weiß ich es nicht genau. Zum einen war es bei den Bauernjungen wohl kein Thema, denn die mussten zuhause auf dem Feld helfen. Das war den Bauern wichtig und das war auch den Nazis wichtig, denn die brauchten das Korn und die Kartoffeln. Zum anderen war mein Opa der Bürgermeister und hatte Privilegien. Und auch er war kein Nazi im Kopf. Von daher wollte er sicher meinen Vater auch nicht in der Hitlerjugend wissen.
Was hat man gewusst?
Das ist die entscheidende Frage, die man sich als Nachkriegsgeneration fragt: Was haben meine Eltern und Großeltern über die Nazi-Verbrechen gewusst und wie sind sie damit umgegangen? Was meine Familie angeht, haben sie von der Judenverfolgung und den KZ-Lagern nichts gewusst. Das ist so erst einmal leicht dahergesagt, aber ich halte das für authentisch. Wir haben im Laufe der Jahre diverse KZ-Gedenkstätten besucht und die Reaktion meiner Eltern dabei lässt es mich glauben. Als Sohn kennt man seine Eltern gut und weiß, wann etwas authentisch ist.
Auf einem kleinen Dorf in Pommern kamen manche Dinge nicht an. Man hatte keinen Radioempfang, die Zeitungen berichteten natürlich nicht über KZ-Lager und es gab auch keine Soldaten in der Familie, die darin involviert waren. Man hat über den Genozid an den Juden nichts gewusst. Ich hatte meine Eltern auch des Öfteren zur Verfolgung von Juden allgemein gefragt. Aber auch dazu wussten sie nichts zu sagen. Unter den Bauern im Dorf meines Vaters gab es keine Juden. Meine Mutter wüsste auch nicht, dass jemand in ihrem Dorf Jude war. Auch nicht, das Kinder in der Schule jüdisch waren. Somit stellte sich offensichtlich an diesem Ende der Welt diese Frage nicht.
Etwas anderes hingegen wusste man. Nämlich die Verbrechen der Wehrmacht in Russland. Man wusste das von den Soldaten, die es in vielen Familien gab, und die regelmäßig nachhause auf Urlaub kamen. Dann erzählten sie von dem, was sie erlebt haben. Und sie berichteten ganz offen darüber, dass die Wehrmacht Verbrechen in Russland begeht. Meine Mutter zitierte sehr oft meinen Onkel, der detailliert solche Verbrechen geschildert hat und dass hoffentlich nie die Russen nach Deutschland kommen und gleiches mit gleichem vergelten. Diese Hoffnung sollte sich leider nicht erfüllen.
Die Zeiten in Pommern waren ruhig. Der Krieg war bis 1944 weit weg. Einzig Kriegsgefangene, vorwiegend Polen, bekam man als Arbeiter zugewiesen. Mein Opa verteilte sie als Bürgermeister und achte sehr genau darauf, dass diese Zwangsarbeiter gut behandelt und verpflegt wurden. Das sollte ihm später vergolten werden. Ansonsten waren Krankheiten der größere Feind. Mein Vater, den wir im Bild mit seinem Hund sehen, wurde als Zehnjähriger sehr krank. Man befürchtete seinen Tod. Seine Mutter schlachtete daraufhin seinen Hund und flösste ihm das Blut des Hundes ein. Das sollte ihn retten. Ob es ihn gerettet hat oder etwas anderes sei dahingestellt. Jedenfalls überlebte er diese Krankheit. Und so lebte man ein ganz normales Leben bis hin zum Sommer 1944.
Der Krieg kommt nach Pommern
Der Krieg war wenig präsent. Große Bombardements gab es auf dem Land in Pommern nicht. Es gab wohl mal ein paar Tiefflieger und dann versteckte man sich. Aber es war mehr Spiel als Ernst. Der Ernst kam im Sommer 1944. Bis dahin lief alles seinen Gang. Flüchtlinge kamen zuerst vermehrt aus dem Osten, vor allem aus Ostpreußen. So erfuhr man vom Vormarsch der Russen und der Wende im Krieg. Wie man damit umgehen soll, wusste niemand so genau. Und niemand wollte seine Heimat und sein Hab und Gut aufgeben. Eine Flucht war möglich, wenn auch schwierig. Die Ereignisse liefen am Ende wohl einfach zu schnell, so dass meine Eltern nicht auf die Flucht gingen. Die Russen kamen im Sommer 1944 und damit war nichts mehr wie es vorher war. Gerade Kinder, wie es auch meine Eltern waren, wurden aus ihrem sicheren Leben gerissen und schwer traumatisiert.
Krieg in größt vorstellbarer Grausamkeit
Mein Opa war klug. Er schmiss alle Nazi-Symbole und ein Bild Hitlers, was er als Bürgermeister in seinem Arbeitszimmer aufgehangen haben musste, in den Teich hinter dem Haus. Aber er war eben der Bürgermeister, und weil er das war wurde er in Kriegsgefangenschaft verschleppt. Man nahm ihn mit und er war weg. Niemand wusste, wo er war und ob er lebt. Zurück blieben mein Vater, seine Mutter und seine ältere Schwester. Was sie nun tun sollten und wie es weiter geht, das wussten sie nicht. Aber ansonsten blieb das Bauerndorf meines Vaters weitgehend von großen Gewalttaten verschont.
Ganz anders war es bei meiner Mutter. In Ihrem Dorf gab es eine Schnapsbrennerei. Deren Lager waren voll. Die Russen kamen und tranken. Sie tranken und enthemmt vom Alkohol vielen sie wie die Tiere über die Gegend her. Die Frauen wurden vergewaltigt, ebenso viele Mädchen. Darunter auch meine Oma. Meine Mutter war hinter der Tür und schrie. Sie entging der eigenen Vergewaltigung nur knapp. Durch die Vergewaltigung zog sich meine Oma einen Infekt zu und erkrankte schwer. Es gab keine Ärzte mehr und keine Medikamente. Es gab auch keine Hilfe. Alle Strukturen waren zerstört. Meine Oma starb binnen weniger Tage. Sie lag auf ihrem Bett. Meine Mutter lebte und schlief eine Woche neben ihrer toten Mutter, bevor diese mit Hilfe irgendwelcher Leute verscharrt wurde. Ordentliche Beerdigungen gab es nicht mehr. Meine Mutter war jetzt Vollwaise. Alles war im Chaos. Sie verwahrloste und stahl um zu überleben. Der Tod war überall. Tote Babies, tote Kinder und tote Erwachsene. Der Gutsbesitzer von Blankenburg, er war nicht geflohen, wurde hinter sein Auto gebunden und zu Tode geschleift. Meine Mutter erzählt über all das emotionslos, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Der Krieg hatte ihr die Gefühle genommen.
Nach dem Nazistaat
Der Krieg hatte den Nazistaat binnen Sekunden dahin gerafft. Er war weg und mit ihm jede Form von Staat. Wie lange es genau dauerte bis wieder Strukturen bestanden, kann meine Mutter nicht mehr sagen. Sie erinnert sich in zeitlicher Hinsicht nicht mehr daran. Mein Vater auch nicht. Vermutlich erst mit dem Jahr 1945. Mein Vater, der nicht gerne und viel erzählte, berichtet hierüber sein liebstes Erlebnis: Nämlich die Rückkehr seines Vaters. Mein Opa war nach Polen in ein Lager verschleppt worden. Dort sah ihn einer der polnischen Aufseher, der Jahre zuvor als ehemaliger Gefangener meinem Opa zur Zwangsarbeit zugewiesen war. Er erinnerte sich an meinen Opa als einen Mann, der ihn stets mit Anstand behandelt und gut versorgt hatte. Er veranlasste, dass mein Opa freigelassen wurde und nachhause gehen durfte. Er ging nach hause und kam dort einen Tag vor Weihnachten 1944 an. Vor Freude rannte mein Vater in den Wald, schlug eine Tanne und stellte einen Weihnachtsbaum auf.
Bei meiner Mutter war niemand, der zurückkommen konnte. Eine auf der Flucht gestrandete Frau mit Tochter aus Ostpreußen nahm meine Mutter als Pflegekind auf. So bekam sie eine Halbschwester. Mit dem Ende des Krieges wurde Pommern polnisch. Meine Eltern lernten die polnische Sprache und mussten als Zwangsarbeiter für den polnischen Staat arbeiten. Als Polen fühlte man sich aber nie. Es bildete sich eine Deutsche Kommune heraus. Man wollte ausreisen, aber das wurde nicht zugelassen.
Eine Jugend als Zwangsarbeiter
In diesem Zeiten, unter diesen Umständen, verbrachten meine Eltern ihre Jugend. Und wenn es auch schwer vorstellbar ist, so hatte man doch eine Jugend. Man traf sich, feierte und machte Musik. Man grenzte sich ab, blieb unter sich und verliebte sich auch unter sich. So lernte meine Mutter mit 17 Jahren, im Jahr 1951, meinen Vater kennen. Sie verlobten sich und 1955 heirateten sie. Inzwischen 10 Jahre nach Kriegsende, immer noch festsitzend in Polen. Man hatte wenig und noch weniger hatte man Aussichten auf eine Zukunft, aber man lebte dennoch sein Leben. Und 1956, zur Überraschung aller, durften die Deutschen, die es wollten, nach Deutschland ausreisen.
Die Ausreise begann mit einer entscheidenden Wahl, von der man gar nicht wusste, was sie bedeutet. Man durfte nämlich wählen, ob man in den Westteil oder den Ostteil Deutschlands ausreisen möchte. Informationen darüber waren spärlich und welche Verwandten noch lebten und wo diese wohnten, wusste niemand so genau. Meine Eltern wählten den Westen. Das hatte einen Grund. Dieser Grund lag in einer abenteuerlichen Geschichte. Die ältere Schwester meines Vaters war heimlich über die Ostsee in einem Boot aus Polen rausgeschmuggelt worden. Mein Opa hatte jemanden bestochen und das ganze veranlasst. Die Flucht klappte. Mein Opa trug die Konsequenzen, die darin bestanden, dass er geschlagen wurde. Schlimmeres ist ihm dafür zum Glück nicht passiert. Die Schwester meines Vaters kam nach Hamburg, wo sie auch bald heiratete. Und die Information erreichte auch meine Eltern. Aus diesem Grund gingen sie in den Westen. Über das Auffanglager Friedland für Flüchtlinge kamen sie dann auch nach Hamburg.
Nachwort
Der Krieg war für meine Eltern 1945 nicht vorbei. Er spielte als Trauma weiter in ihrem Köpfen. Ich wurde 27 Jahre nach Kriegsende geboren. Seit ich denken kann, war der Krieg immer für mich präsent. Man kann ein Trauma nicht vererben, aber es hat Auswirkungen auf die kommenden Generationen. Mein Vater war emotional verarmt. Er redete wenig und war verschlossen. Meine Mutter war von Ängsten, Zwängen und Persönlichkeitsstörungen geprägt. Wir waren keine normale Familie, denn es gab an keinem Tag eine Leichtigkeit des Lebens, wie es bei anderen der Fall war. Ich sah das bei Freunden. Da war man zwanglos. Bei uns war man anders. Man verwertete auch den kleinsten Rest Essen, denn im Krieg waren Menschen verhungert. Man aß seinen Teller leer, auch wenn einem schlecht wurde, denn im Krieg waren Menschen verhungert.
Ich lernte, dass nichts selbstverständlich war und ich für alles dankbar und demütig sein muss. Dafür dass ich Eltern habe, dafür dass ich zu Essen habe, dafür dass ich Kleidung habe und so weiter. Meine Mutter musste mich und alles kontrollieren, ständig mit der Angst behaftet, dass das Böse kommt und alles zunichte macht. Das Leben war nichts, das man genießen durfte. Es gab nur ein Konzept: Hart arbeiten, Wohlstand in Form von Geld konservieren und Mitläufer in der Gesellschaft sein. Alles war neurotisch, alles war von Ängsten geprägt und alles zielte drauf ab, Dinge im Kopf zu bekämpfen, die real nicht existierten. Dass ein Kind das nicht verstehen kann, dafür gab es kein Bewusstsein. Das ein Kind ein eigenes Leben und ein anderes Leben führen möchte, dafür hatten meine Eltern kein Verständnis. Therapeuten und eine psychologische Aufarbeitung hatten sie nie gehabt. Es war für mich eine Kindheit im Konflikt. Und das war so, weil es Krieg gegeben hatte. Es war nicht sie Schuld meiner Eltern, es war die Schuld des Krieges. Krieg machen aber Menschen. Menschen sind Schuld am Krieg. Und Menschen sind Schuld daran andere Menschen mit Krieg seelisch zu zerstören. Krieg ist keine Lösung, sondern das Problem.
Es liegt an uns Menschen, ob wir den Krieg wollen und ob wir einen Nazistaat wollen. Wenn wir das nicht wollen, dann dürfen wir nicht schweigen!