Karien Prien, falls jemand sie nicht kennt, ist die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Was sie auf Twitter geschafft hat, ist in jedem Fall eine Leistung und zweifelsfrei einen Blogbeitrag wert. Einen derartigen Sturm der Entrüstung hat vor ihr noch niemand der Kultusminister*innen geschafft. Die Quantität an Ablehnung, die dort auf Karin Prien derzeit einschlägt, haben selbst die Kandidaten zur Bundestagswahl im letzten Herbst nur selten erreicht. Das allein zeigt, dass hier etwas außergewöhnliches vorgefallen sein muss.
Ich möchte den Vorfall analysieren und mit diesem Blogbeitrag nicht Frau Prien angreifen. Es geht mir um die Fakten in dieser Angelegenheit. Ich mache aber keinen Hehl daraus, dass mich der Beitrag von Karin Prien ebenso, wie zig tausende andere Menschen, entsetzt hat. Ich teile Frau Prien Ihre Ansicht in keiner Weise. Diesen persönlichen Standpunkt in der Sache nehme ich vorweg.
Worum geht es eigentlich?
Ich möchte hier nicht den Tweet erneut zitieren, sondern schlichtweg erklären, worum es in der Diskussion geht. Karin Prien hat die Frage gestellt, ob, im Zusammenhang mit Corona, Kinder mit Vorerkrankungen, oder aus sonstigem Grund zu einer Risikogruppe zählend, ein absolutes Schutzrecht haben oder man dieses Schutzrecht mit dem Freiheitsrechten der nicht risikobehafteten Kinder abwägen muss? In anderen Worten: Ob risikobehaftete Kinder ihr Risiko teilweise in Kauf nehmen müssen und es dabei zumutbar ist, dass diese schwer erkranken oder gar sterben? Frau Prien nennt das differenzieren bzw. differenzierte Betrachtung.
Bei dieser Betrachtung werden folgende Zahlen zugrunde gelegt. Bisher sind in der Altersgruppe 0 bis 19 Jahre nur 65 Kinder/Jugendliche an Corona gestorben, bzw. in der Altersgruppe 0 bis 16 Jahre nur 45 Personen. Frau Prien sieht dieses als eine sehr geringe Zahl an und setzt diese geringe Zahl ins Verhältnis zu der Zahl an Kindern/Jugendlichen, die durchschnittlich insgesamt sterben. Dieses wiederum wägt sie dann mit den Freiheitsrechten und dem Recht auf Bildung der Kinder und Jugendlichen ab. Dabei kommt Karin Prien zu dem Schluss, dass diese sehr geringe Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen mit oder an Corona die Einschränkungen an den Schulen nicht rechtfertigen kann. Somit sagt sie indirekt aus, dass eine geringe Zahl an toten Kindern akzeptabel ist und nicht die Einschränkung der Gesamtheit für den Erhalt dieser Leben begründen darf. Ihr ist dabei bewusst, dass dieses vorwiegend, aber nicht nur, Kinder und Jugendliche mit Vorerkrankungen oder aus sonstigen Risikogruppen trifft.
In der Historie ist diese Haltung von Karin Prien nicht neu. Sie hat mehrfach Aussagen wie “Gesundheitsschutz steht nicht grundsätzlich vor dem Recht auf Bildung” oder “Omikron geht nicht in die Lunge” getroffen. Letzteres ist wissenschaftlich klar widerlegt und in diesem Sinne Fake-News. Mit dieser Haltung ist sie auch nicht allein im Kreis der Kultusminister*innen, wo auch von zahlreichen anderen Seiten ähnliche Beiträge zu hören waren.
Reaktionen
Die Kommentare zum finalen Tweet von Karin Prien, der das Fass auch insgesamt zum Überlaufen gebracht hat, waren zahlreich und heftig. Zig tausend empörte Stimmen warfen ihr vor abscheuliches und unmoralisches Verhalten zu zeigen. Gerade Eltern mit risikobehafteten Kindern fühlten sich besonders angesprochen und machten Ihren Gefühlen deutlich Luft. Dieses führte sehr zeitnah zu dem Hashtag “#Schattenfamilien”. Hier wurde noch einmal deutlich die fehlende Unterstützung für Familien mit chronisch kranken und risikobehafteten Kindern und Jugendlichen thematisiert.
Karin Prien zur Seite sprangen letztlich nur wenige Politiker*innen aus den eigenen Reihen. Viele verstanden, wie heikel es ist in dieser Diskussion teilzunehmen. Andere taten es aber auch aus persönlichen Erwägungen nicht. Es gab keine lautstarke Unterstützung für Frau Prien aus der Führungsspitze der CDU und auch nicht von anderen Kultusminister*innen. Lediglich die üblichen rechten Trolle und die Szene der sogenannten “Spaziergänger” oder auch “Querdenker”, einschließlich weit rechts stehender Accounts, hielten zu Karin Prien. In der Presse schlugen sich die üblichen Verdächtigen auf ihre Seite und etablierten den Mythos, dass ein “enthemmter linker Mob” sich grundlos auf Karin Prien stürzt. Spätestens damit war die Diskussion von der Sachebene losgelöst worden, und es ging nur noch darum, dass die eine Seite die andere Seite der Unredlichkeit bezichtigte.
Karin Prien selbst hat nach zwei Tagen ihren Twitter-Account deaktiviert und sich zurückgezogen. Sie hat sich vorher weder für Ihren Tweet entschuldigt noch diesen gelöscht. Sie hat vielmehr sehr deutlich gemacht, dass sie sich zu Unrecht nagegriffen fühlt und ein Opfer, kein Täter ist. Und dass sie im recht ist, so Leben zu differenzieren, wie sie es tut. Kritiker*innen verstehen dieses einfach nicht richtig.
Analyse der Argumente
Ich habe unter den Tweet von Frau Prien, als der Account noch aktiv war, insgesamt drei Kommentare gefunden, die antisemitisch waren. Einer davon hat den Holocaust relativiert. Hierzu muss man verstehen, dass Karin Prien jüdischer Herkunft ist. Vermutlich sind es insgesamt deutlich mehr als drei derartige Kommentare gewesen. Da es zig tausend Kommentare gab, konnte ich natürlich nicht alle lesen. Diese drei Kommentare, die ich gefunden habe, sind 30 zu viel. Jeder Antisemitismus verbietet sich und was Frau Prien an Aussagen trifft, steht nicht im Zusammenhang mit Ihrer Religion, ihrer Herkunft, Ihrer Ethnie oder ihrem Geschlecht. Jede solche Aussage, die das Thema von der Sachebene auf diese persönliche Ebene hebt, ist verwerflich.
Das einige Personen auf einer nicht hinnehmbaren Ebene Kommentare abgegeben haben, ist inakzeptabel und jeder einzelne derartige Beitrag nicht zu tolerieren. Es betrifft aber nicht die zig tausend sachbezogenen Kommentare, die sich durch Frau Prien emotional betroffen gefühlt haben. Und die inhaltlich klar und deutlich die gegenteilige Meinung zu Frau Prien vertreten, nicht mehr.
Die richtige Meinung
Wir haben Meinungsfreiheit ist Deutschland. Das ist sehr gut so und sagt zugleich aus, dass es kein Recht auf eine richtige Meinung gibt. Das gilt für Politiker*innen wie für Bürger*innen. Wenn Frau Prien eine Meinung hat und zig tausend Menschen eine andere, dann ist das zuerst einmal Demokratie. Es ist kein “enthemmter linker Mob”. Eine andere Meinung haben zu dürfen ist Demokratie. Und Karin Prien ist eine demokratisch legitimierte Politikerin, die für das System Demokratie angetreten ist. In sofern muss sie eine andere Meinung als ihre eigene auch hinnehmen.
Karin Prien muss ferner Einsehen, dass die Idee der Demokratie die von Mehrheiten ist. Wenn eine deutliche Mehrheit ihr gegenüber eine andere Meinung vertritt, dann sollte sie dieses als demokratischen Ausdruck des Willens eines Teils der Bevölkerung zur Kenntnis nehmen. Darüber hinaus aber auch reflektieren, dass sie ganz offensichtlich zig tausend Bürger*innen mit ihrem Tweet emotional verletzt hat. Wenn es dabei denn so sein sollte, wie Karin Prien selbst sagt, dass sie missverstanden wurde und diese Bürger ihre Differenzierung nicht verstehen, verbleibt folgendes: Der Tweet war schlecht formuliert und hat zig tausende an Bürger*innen verletzt. Karin Prien wäre daher in der Verantwortung gewesen, diesen Tweet zu löschen und sich für das Missverständnis zu entschuldigen. Dieses hat Frau Prien bewusst nicht getan, sondern sich als das Opfer einer Kampagne inszeniert. Das entspricht nicht der Sachlage. Frau Prien hat sich selbst, durch eine unkluge und sehr provokante Aussage in diese Position gebracht. Und sie hat sich dann, bei allem Respekt, feige zurückgezogen.
Das Bundesverfassungsgericht
Wenn jemand überhaupt darüber entscheiden darf, was eine richtige Meinung zu etwas ist, dann ist es das Bundesverfassungsgericht. Es ist unsere höchste Legitimation zur Klärung dieser Fragen. Und als demokratisch gewählte Politikerin ist Frau Prien den dort getroffenen Entscheidungen durchaus verpflichtet. Das BVerfG hat sich zu der hier zur Frage stehenden Thematik sehr deutlich geäußert. Und zwar im Urteil 1 BvR 357/05, verkündet am 15. Feb. 2006.
Zitat aus dem Urteil:
“(…) Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 72, 105 <115>; 109, 279 <311>). Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>; 96, 375 <399>). Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>). Das gilt unabhängig auch von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens (vgl. BVerfGE 30, 173 <194> zum Anspruch des Menschen auf Achtung seiner Würde selbst nach dem Tod).
Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 56, 54 <73>). Ihren Grund hat auch diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; 49, 89 <142>; 88, 203 <251>).”
Karin Prien verstößt eindeutig gegen dieses Urteil des Bundesverfassungsgericht. Ihre Aufgabe wäre ganz klar, jedes einzelne menschliche Leben zu schützen. Sie differenziert aber menschliche Leben. Ob sie dieses darf, will ich hier nicht diskutieren. Das müssen Verfassungsrechtler entscheiden. Es kann aber nicht diskutiert werden, dass, wenn zig tausende Bürger*innen die Meinung des Verfassungsgerichts gegen Frau Prien vorbringen, dass dieses dann nicht sachliches Gewicht hat. Wer letztlich nur das sagt, was unser oberstes Verfassungsgericht sagt, der kann und darf nicht als “enthemmter linker Mob” bezeichnet werden. Wer dieses dennoch tut, hat den Boden der Demokratie verlassen.
Was die Politik weglässt
Man kann die Thematik nicht erschöpfen, ohne auch darauf zu blicken, was von Frau Prien & Co weggelassen wurde. Tatsächlich wird immer mit dem Recht auf Bildung als hohes Gut argumentiert. Es steht außer Frage, dass dieses Recht auch dieses Hohe Gut beinhaltet. Tatsächlich tut unsere Politik ansonsten aber nichts dafür, dieses Recht auch entsprechend zu würdigen. Wir haben keine funktionierende Digitalisierung an Schulen, wir haben eine teilweise marode Infrastruktur, wir haben zu wenig Personal, wie haben eine nicht funktionierende Inklusion usw. Die Politik wirft nicht alle Mittel, die sie irgend hergeben kann, in die Förderung der Bildung. Vielmehr interessiert die Politik Schulen und Bildung nur sehr begrenzt. Somit ist die Argumentation mit der Wichtigkeit von Bildung wenig glaubhaft.
Wir reden ferner immer über die Kinder und Jugendlichen, die wegen mangelnder sozialer Kontakte und fehlender Präsenzschule psychische wie Lerndefizite entwickeln. Natürlich gibt es diese Gruppe und natürlich muss dieser Gruppe geholfen werden. Dabei werden die anderen Gruppen aber nicht genannt:
- Diejenigen, die psychische Defizite dadurch erleben, dass sie in den Schulen Angst haben sich an Corona anzustecken.
- Diejenigen, die Angst vor Long-Covid oder einen schweren Verlauf haben.
- Diejenigen, die eine Vorerkrankung haben oder risikobehaftet sind und deswegen zum Teil Todesängste haben.
- Diejenigen, die zuhause viel besser lernen können als in lauten, großen Klassenverbänden mit veralteten Lehrmitteln.
- Diejenigen, die nicht gern in die Schule gehen, weil sie dort gemobbt werden und sich fürchten.
- Diejenigen, die derzeit wegen zu wenig Personal keinen Schutz mehr vor Übergriffen aller Art haben.
Über all diese Gruppen, und es gibt sicher noch mehr, reden wir nicht. Es macht auch keiner eine Erhebung dazu, wie groß diese Gruppen jeweils sind. Letztlich ist das auch egal, denn jeder einzelnen Gruppe muss man gerecht werden. Es gibt auch keine Studien zu Long-Covid unter Kindern und Jugendlichen. All dass wird von der Politik nicht thematisiert.
Warum es weggelassen wird
Ich will hier nicht spekulieren, aber klar ist, dass die Politik vom Ergebnis her argumentiert. Karin Prien und ihre Kolleg*innen haben zuerst das Ergebnis festgelegt: Schulen müssen in Präsenz unterrichten, offen bleiben und es darf nur die minimalsten Einschränkungen geben. Danach hat man die Argumente, die dafür sprechen, erarbeitet. Die Argumente, die dagegen sprechen, weigert man sich überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Und da stellt sich natürlich die Frage nach der Absicht dahinter.
Da die Politik uns das nicht mitteilt, muss man an dieser Stelle spekulieren. Ich für meinen Teil, und das ist nur meine Meinung, glaube, dass es um die Angst eines Kontrollverlustes geht. Ein System, in dem Schüler*innen in Eigenverantwortung lernen, zum Teil zuhause, zum Teil in Präsenz, zum Teil in Fernunterricht und dann auch vorarbeiten können, so dass einige Freitags problemlos für den Klimaschutz demonstrieren könnten, macht unseren Politiker*innen Angst. Aber das ist nicht das Thema dieses Blogbeitrags und ich beende den Gedanken.
Die Auswirkungen
Was Karin Prien hier losgetreten hat, ist dem System Schule und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht förderlich gewesen. Wenn wir den Schwächeren unter uns die Solidarität aufkündigen und diese zu einer “Second-Class” machen, dann ist das schlecht für das ganze System Schule. Es betrifft auch nicht nur die Corona-Zeit, sondern es betrifft dann alle Gruppen, die nicht dem idealtypischen mehrheitlichen Durchschnitt im positiven Sinne entsprechen. Also die sozial schwachen Gruppen, die Inklusionskinder, die lernschwachen Kinder und Jugendlichen, die mit häuslichen Problemen und die mit Sprachbarrieren. Wenn wir diesen die Solidarität aufkündigen und sagen: “Kommt selbst klar, der Hauptteil des Kuchen ist für die Normalos und Starken, nicht für Euch!” Wenn wir das tun, dann gehen diese Kinder mit Bauchschmerzen in die Schule und die Eltern dieser Kinder bringen sie mit Bauchschmerzen dahin. Und dann werden diese Kinder als in der Gesellschaft nicht gewollt und Außenseiter für ihr ganzes Leben geprägt. Das Signal, das damit gesendet würde, wäre vernichtend und würde jedes davon betroffene Kind bis an das Lebensende verfolgen.
Andererseits führt die von Karin Prien geschaffene Spaltung zu einem Gewalt- und Konfliktpotential. Diejenigen, die die schwachen Gruppen schützen, werden nicht nur in der Wichtigkeit ihrer Aufgabe negiert. Sie werden Anfeindungen und Ablehnung ausgesetzt. Wer als Aktivist für soziale Gerechtigkeit und für die schwachen in unserer Gesellschaft eintritt, der ist politisch nicht mehr gedeckt. Wie sollen Sozialpädagog*innen, Erzieherinnen & Co unter diesen Umständen noch ihre Arbeit erbringen? Der wesentliche Teil dieser Arbeit ist es, die Schwächeren vor den Stärkeren zu schützen und beide Gruppen miteinander zu einen. Zitieren wir denen dann Karin Prien und sagen fortan: Lasst die Schwachen allein klarkommen, dass ist ein akzeptabler Kollateralschaden für das höhere Ziel des Wohlstands der privilegierten Gruppen? Eine solche Welt will ich nicht. Und wenn wir diese gesellschaftlich nicht wollen, dann war das, was Karin Prien gesagt hat, falsch und unverantwortlich!