Des Öfteren poste ich auf Twitter Content zum Thema Schule. Es handelt sich dabei meistens um einzelne, mir bekanntgewordene Vorfälle an Schulen oder kritische Thesen zum Schulsystem. In den Kommentaren und per Direktnachricht bekomme ich dafür sehr oft Kritik, dass „Einzelfälle“ nicht für die Breite der Schulen stehen und ein „allgemeines Bashing auf Schulen“ nicht angebracht ist. Dabei habe ich nie etwas dergleichen geschrieben oder getan. Andererseits finde ich in den Kommentaren genauso viele gegensätzliche Positionen, die Schulen offensichtlich generalisiert als „Orte des Bösen“ sehen. Ich erkenne daraus, dass das Thema polarisiert. Schulen sind derzeit für Eltern wie für Lehrkräfte offensichtlich eine große Belastung, auf die sehr emotional reagiert wird.
In diesem Artikel möchte ich mich objektiv und analytisch mit einem Problem des sehr komplexen Schulsystems auseinandersetzen: Den Stadtteilschulen in Hamburg. Parallelen bestehen sicher auch zu anderen Bundesländern, aber meine Vorlage für diesen Artikel sind die Hamburger Stadtteilschulen und deren Lage.
Vorinformationen
In Hamburg werden Schüler*innen nach der Klassenstufe 4, bewertet nach ihren Leistungen, an die weiterführenden Schulen versetzt. Dieses sind Stadtteilschulen oder Gymnasien. Daneben betreibt Hamburg Sonderschulen für Kinder mit außergewöhnlichen Inklusionsbedarf. Leistungsstarke Schüler*innen wechseln regelmäßig an die Gymnasien, alle anderen an die Stadtteilschulen. Das System Haupt-, Real-, Sonderschulen wird in Hamburg nicht praktiziert.
Im weiterem muss man wissen, dass Hamburg Schulen nach einem Sozialindex einteilt, dem sogenannten KESS-Faktor, der von 1 bis 6 reicht. Dabei ist „1“ der niedrigste und „6“ der höchste Wert. Vereinfacht kann man sagen, dass es sich um die Einteilung einer Schule als „Brennpunktschule“ oder eben nicht handelt. Wer die „1“ hat, der ist maximale Brennpunktschule, wer die „6“ hat gar nicht. Nach dieser Zuordnung wird das Personal für die Schulen bemessen. Schulen mit niedrigem KESS-Faktor bekommen mehr Personal.
Darüber hinaus wird in Hamburg Inklusion praktiziert. Um hier keine Missverständnisse entstehen zu lassen, möchte ich mich deutlich hierzu bekennen: Inklusion ist eine wichtige und richtige Sache! Es bedeutet, dass Schüler*innen mit Defiziten, diese können physisch oder psychisch sein, an den Regelschulen mit allen anderen Schüler*innen unterrichtet werden.
Eine durchschnittliche Klasse einer Stadtteilschule bildet sich dann wie folgt ab: Es gibt zwei bis drei Inklusionsschüler*innen, ferner ca. 6 Schüler*innen auf dem Niveau der ehemaligen Hauptschule, welche den sogenannten ersten Schulabschluss (ESA) anstreben und dort auch ihre Grenzen haben. Dann kommen weitere ca. 10 Schüler*innen dazu, die dem ehemaligen Realschulniveau entsprechen und einen mittleren Schulabschluss (MSA) anstreben. Zu guter Letzt gibt es weitere 2 bis 3 Schüler*innen, die Gymnasialschulniveau haben und das Abitur anstreben, das an Stadtteilschulen auch abgelegt werden kann.
Es ist in der idealtypischen Besetzung vorgesehen, dass Schüler*innen mit bestimmten Inklusionsbedarf eine Schulbegleitung bekommen und in vielen Fächern Doppelbesetzungen praktiziert werden, um die Beschulbarkeit so heterogener Klassen gewährleisten zu können.
Problemstellungen
Durch den Wegfall der Einteilung in leistungsgleiche Kategorien ergibt sich das Problem der heterogenen Beschulung. In einigen Bundesländern wird es als „binnendifferenzierte Beschulung“ bezeichnet. Dieses beinhaltet eine gleichzeitige individuelle Beschulung verschiedener Schüler*innen auf verschiedenen Leistungsniveaus in einer Klasse. Von Lehrkräften wird also verlangt, dass diese über 20 Schüler*innen auf vier verschiedenen Leistungsebenen gleichzeitig, den Bedürfnissen der jeweiligen Schüler*innen nach, beschulen. Hierzu können noch gesonderte Bedürfnisse der Inklusionskinder kommen, je nach Art der bestehenden Defizite. Diese Aufgabe erfolgreich zu meistern, wenn das überhaupt zu schaffen ist, ist eine sehr schwierige Herausforderung für die Lehrkräfte.
Daneben gibt es in den Klassen die üblichen bekannten Probleme einer Befriedung der Schüler*innen, um ein angemessenes Lernklima herzustellen. Durch die Corona-Zeit, aber auch andere Umstände, wird dieses für die Lehrkräfte immer schwieriger. Es wird zusätzlich noch schwieriger, wie tiefer der KESS-Faktor einer Schule ist. Herrscht keine Befriedung der Klasse, ist, wie wir alle wissen, effektiver Unterricht nicht möglich.
Durch den Lehrkräftemangel herrscht Unterbesetzung an den Schulen. Dieses gilt auch für sozialpädagogische Stellen und noch deutlicher für Schulbegleitungen. Für letztere gilt ferner, dass eine ausreichende Qualifikation nicht erforderlich ist und Schulbegleiter*innen regelmäßig unter prekären Anstellungsbedingungen nur Teilzeit leisten. Es ist daher nicht erstaunlich, dass diese mehr als alle anderen im System fehlen und Inklusions-Schüler*innen, welche dringend eine Schulbegleitung brauchen täten, diese nicht, nur für wenige Stunden oder in nicht ausreichend qualifizierter Form bekommen. Das Ergebnis dieser Gesamtproblematik ist, dass Lehrkräfte die meiste Zeit alleine vor den Klassen stehen, ohne Doppelbesetzung, ohne ausreichende Schulbegleitungen und ohne jede andere Hilfe.
Zum Personalmangel ist ferner festzustellen, dass dieser sich an verschiedenen Schulen sehr unterschiedlich zeigt, auch innerhalb der Hamburger Stadtteilschulen, und nicht gleichmäßig über alle Schulen verteilt wird. Somit kann er an manchen Schulen sehr extrem sein, an anderen weniger. Auch hierbei spielt der KESS-Faktor eine Rolle, da Lehrkräfte sich bevorzugt Schulen mit hohem KESS-Faktor aussuchen. „Brennpunktschulen“ sind deswegen oftmals besonders von Personalmangel betroffen.
Zusätzlich, auch das muss hier erwähnt werden, sind Lehrkräfte, deren gute Ausbildung ich nicht in Frage stellen will, in jedem Fall nicht für eine solche Situation und für bestimmten Inklusionsbedarf, insbesondere im psychischen Bereich, ausgebildet. Dieser Mangel an Ausbildung kann in jedem Fall auch nicht durch ein paar Tage Weiterbildung im Jahr, wie die Schulbehörde es zu glauben scheint, behoben werden.
Und zu den veränderten Rahmenbedingungen an Schulen gehört auch die Tatsache, dass der Respekt der Schüler*innen vor den Lehrkräften stetig abnimmt und klassische Mittel der Disziplinierung der Klassen nicht mehr greifen. Handgriffigkeiten und Gewalt gegenüber Lehrkräften kommen vor. Sie sind die Ausnahme, aber dieses darf nicht verschwiegen werden.
Globale Veränderungen
Nicht nur, dass wir das Schulsystem als Gesellschaft verändert und damit auch neue Probleme geschaffen haben, es hat sich auch die Welt an sich verändert. Wir sehen jetzt die ersten Klassenstufen an den Stadtteilschulen, die von klein auf mit dem Internet und digitalen Endgeräten großgeworden sind. Diese Generation hat Zugang zu dem gesamten Wissen der Menschheit und vernetzt sich untereinander in vielfältiger Weise. Ob dieses gut oder schlecht ist, ist nicht Thema dieses Artikels. Es ist jedenfalls so und es ist auch so, dass dass System Schule auf diese Veränderung nicht angemessen reagiert hat. Die Methoden der Schulen verharren noch im Gestern, währen die Schüler*innen schon im Morgen angekommen sind.
Einige Schüler*innen, ich muss das hier leider auch sagen, weil es Teil des Problems ist, sind so weit unbeaufsichtigt im Internet unterwegs, dass sie nicht altersgerechte Spiele und Medien im großen Stil konsumieren. Hieraus ergeben sich eine Vielzahl gravierender sozialer Verhaltensprobleme.
Ferner hat sich die Aufbauorganisation der Schulen nicht mit der der freien Wirtschaft weiterentwickelt. In den größeren Institutionen der freien Wirtschaft sind Digitalisierung und Compliance (Qualitätsmanagement, Umweltmanagement, Controlling, Datenschutz, IT-Sicherheit etc.) inzwischen feste und wichtige Bestandteile. Dieser Prozess hat in dieser Form an den Schulen noch nicht stattgefunden. Dadurch haben Schulen Defizite in der Effektivität und der Umsetzung von Regulationen. Die Schulinspektion, wie sie in Hamburg betrieben wird, kann das nicht kompensieren und hat selbige Probleme.
Auch in der Infrastruktur sind Schulen zurückgefallen. Schüler*innen klagen vielerorts über nicht sanierte Sanitäreinrichtungen und andere bauliche Mängel. Der Schulbau hat dabei in den letzten hundert Jahren keine große Innovation gezeigt. Wir bauen weiter Klassenräume von um die 70qm für 20+ Schüler*innen, die auf harten Holstühlen an einfachen Tischen sitzen. Bedingungen, die in der freien Wirtschaft von der Arbeitssicherheit und den Betriebsärzten nicht geduldet werden würden. Auch hier hat sich das Schulsystem nicht modern entwickelt.
Zwischenfazit
Um nicht in ein „Bashing der Schulen“ zu verfallen, sei gesagt, dass es sich bei den vorherigen Absätzen um eine Aufzählung der potentiellen Probleme handeln soll, die sehr zahlreich an Stadtteilschulen herrschen. Dabei stelle ich nicht in Frage, dass jede Lehrkraft unter dem ihr Menschenmöglichen alles tut, die bestehenden Probleme zu kompensieren.
Diese Probleme sind aber so komplex, dass eine Lehrkraft schon deutlich über sich hinaus wachsen muss, um noch einen angemessenen Erfolg bei der Beschulung zu erzielen. Was letzteres ist, kann natürlich sehr unterschiedlich interpretiert werden. Bei diversen Umfragen habe ich das doch sehr deutliche Ergebnis bekommen, dass die breite Masse der Bevölkerung mindestens 50% effektiven Unterricht von einer Schulstunde erwartet. In der Realität liegen die Stadtteilschulen oftmals darunter, wobei dieses sehr individuell variiert und auch eine Frage des Jahrgangs ist.
Zusammengefasst steigen also die Probleme in den Stadtteilschulen, ohne das Lösungen hierfür zu erkennen sind. Dieses gilt insbesondere für Stadtteilschulen mit niedrigem KESS-Faktor. In psychologischer Sicht leben Schulen, Schüler*innen und Eltern in sehr verschiedenen Welten, ohne dass jeder den anderen noch versteht. Es kommen also auch Probleme auf den Kommunikationsebenen hinzu. Dieses Dilemma gab es vermutlich schon immer, aber es war noch nie so groß und deutlich, wie es heutzutage ist. Dieses führt zum folgenden Punkt:
Zyklus einer Organisation
Nach einer klassischen Lehre eines Organisations-Lebenszyklus passiert folgendes: Idealtypisch würde eine Organisation alle ihre Aufgaben erfüllen und die dabei entstehenden Probleme auf jeweils unterster angesiedelter Ebene lösen. Die Rahmenbedingungen in der Welt und in der Branche der Organisation verändern sich dann, jedoch verändert die Organisation sich nicht mit. Sie verharrt in ihren herkömmlichen Prozessen. Damit kommt es innerhalb der Organisation zu vermehrten Aufgaben, die mit den bestehenden Mitteln nicht mehr gelöst werden können. Probleme häufen sich, die von den unteren Ebenen, die die Probleme selbst nicht lösen können, nach oben transferiert werden. Auf den oberen Ebenen können diese Probleme auch nicht gelöst werden. Die Probleme werden daher auf die unteren Ebenen zurück transferiert und bleiben dort ungelöst bestehen. Die Qualität der Leistung der Organisation sinkt, sie kommt nicht mehr allen Aufgaben angemessen nach. Dieses führt zu Reaktionen bei Kunden sowie bei Mitarbeiter*innen der Organisation. Es kommt zunehmend zu Konflikten. Der Krankenstand der Organisation steigt. Auf der anderen Seite wehren Mitarbeiter*innen die Arbeitsfrustration auch mit anderen psychologischen Abwehrverhalten ab, zum Beispiel Projektion, Aggression etc. Die Qualität der Leistung fällt weiter und die Beschwerden an die Organisation steigen. Diese Dynamik setzt sich fort und irgendwann erbringt die Organisation kaum noch Leistung. Stattdessen ist sie nur noch damit beschäftigt sich selbst und die Beschwerden in einem Notfallmanagement zu verwalten.
Einem dann gängigen Ansatz nach, versucht eine solche Organisation sich zu sanieren. Dabei schwelgt sie in der Erinnerung, dass es einmal Zeiten gab, wo die Organisation funktioniert hat. Zu diesen Zeiten will man zurück. Dieses führt dann zu dem Fehler, dass man sich nicht an die modernen, veränderten Zeiten anpasst, sondern dass man in die Vergangenheit zurück geht. Man tut also um so mehr das, was schon lange nicht mehr funktioniert und zu den Problemen geführt hat. Meiner persönlichen Meinung nach sehen wir diesen Schritt derzeit lehrbuchhaft in den neuen Bildungsplänen für die Hamburger Schulen.
In der freien Wirtschaft ist es dann so, dass die Organisation kein Geld mehr verdient, weil die Kunden sie verlassen, und über eine Insolvenz vom Markt verschwindet. Eine neue, moderne und funktionierende Organisation füllt die Lücke und erbringt jetzt die Leistung. Schulen sind aber nicht die freie Wirtschaft. Dieser Schritt kann also so nicht passieren. Und dass ist das eigentliche Dilemma.
Ergebnis
Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht, weil auch politischer Mut fehlt. Jedes Eingeständnis von Fehlern und Verantwortung, das Voraussetzung wäre, um drastische und radikal andere Wege zu gehen, wird kein politischer Kompetenzträger auf sich nehmen. Mit dem System der KMK haben wir ein Konstrukt erschaffen, was gut darin ist, die bestehenden Probleme zu verwalten und in blumigen Reden als alternative Fakten wegzudiskutieren. Verdrängung ist aber keine Lösung, es ist Teil der Ursache von Problemen.
Nunmehr, wo ich mir das alles von der Selle geschrieben habe, denn auch ich habe Kinder an Stadtteilschulen und fühle mich damit belastet, möchte ich auf das eigentliche Problem der Geschichte kommen: Wir diskutieren den Sachverhalt als eine Angelegenheit der Erwachsenen. Das ist einerseits richtig, denn Erwachsene müssen das Dilemma lösen. Andererseits sind es aber die Kinder und Jugendlichen, die tatsächlich davon betroffen sind und deren Ausbildung für die Zukunft in Gefahr ist. Es sollte also die Frage gestellt werden, wie es den Schüler*innen damit geht und welche Auswirkungen das ganze auf deren Psyche hat?
Ich lasse die Antwort zu dieser Frage bewusst offen, aber ich glaube, dass die Zustände für die Belastung, die Erfahrungen, die Motivation und auch die Selbstwahrnehmung in der Gesellschaft sehr negativ für Schüler*innen an Stadtteilschulen sind. Und ich glaube, dass wir Erwachsenen das viel zu sehr verkennen, insbesondere diejenigen, die Schule als diszipliniertes Gymnasium erlebt haben, und unsere Augen teils davor verschließen, weil wir unser Versagen nicht eingestehen wollen. Ich wähle das Wort Versagen bewusst, füge aber an, dass ich damit keineswegs ein Versagen bei den Lehrkräften sehe. Ich bin dankbar für jede Lehrkraft, die das noch mitmacht und für die Schüler*innen ihr bestes gibt. Es ist ein politisches und gesamtgesellschaftliches Versagen, an dem wir alle beteiligt sind und wofür wir in der Zukunft einen hohen Preis zahlen werden.