Wir leben in erstaunlichen Zeiten. Ich hätte mir gewünscht, und ich habe das auch ehrlich so geglaubt, dass wir die Dinge, die wir jetzt in der Welt erleben, zu meinen Lebzeiten nicht mehr erleben. Begeistern tut mich das nicht. Es macht Angst und es macht fassungslos. Die Weltordnung, wie wir sie kannten, gilt nicht mehr. Ob es die bestmögliche Weltordnung war, darf man bezweifeln. Veränderungen sind immer notwendig und wichtig. Die derzeitigen Veränderungen gehen aber in die falsche Richtung. Die neue politische Kultur, gleich ob bei uns oder in anderen Ländern, ist keine Veränderung zum Besseren. Der Kampf um die Macht hat neue Formen der Ruchlosigkeit angenommen. Und die Ausübung der Macht ebenso. Die demokratischen Kontrollmechanismen werden aus gehebelt. Die Weltordnung funktioniert nicht mehr. Die Mächtigen stellen sich über Regeln, weil sie es können und weil ihre Machtgier größer als Ihr Gewissen ist.
In diesem Artikel werfe ich nur einen Blick auf Deutschland. Das vorgesagte gilt für fast alle Ländern, und derzeit vor allem für die USA und Russland. In Deutschland wurde gewählt. Wahlkampf wurde eigentlich bereits seit 3 Jahren betrieben. Und wir haben eine ganz neue Wahlkampfkultur erlebt.
Neue politische Ruchlosigkeit
In der Politik geht es um die Macht. Es kommt an die Macht, wer gewählt wird und gewählt wird, wer die meisten Stimmen der Wahlberechtigten bekommt. Es ist wie ein Wettkampf. Man tritt an, um zu gewinnen. Ich vergleiche es einmal mit einem Eintausendmeterlauf. Man kann diesen auf zwei Arten gewinnen: Entweder man ist schneller und ausdauernder als die anderen oder, wenn man es nicht ist, stellt den anderen ein Bein, damit sie hinfallen und zurückbleiben, um dann auch als der schlechtere Teilnehmer als Erster ins Ziel zu kommen.
Wenn wir das auf die Politik anwenden, dann ist letztere Methode inzwischen die beliebtere. Und wenn das die Methode ist, dann stellen sich bestimmt Fragen nicht mehr: Was ist korrekter Umgang, was ist politische Kultur, was entspricht der Ideologie meiner Partei und was ist gut für das Land. Es gibt dann nur noch eine Frage: Was muss ich tun, damit ich die meisten Stimmen bekomme und die Wahl gewinne. Und egal was die Antwort auf diese Frage ist; man tut es, weil die Gier nach Macht größer ist als Moral und Gewissen.
Diese neue Kultur der Ruchlosigkeit, dieses neue dreiste Niveau des Lügens, wurde ursprünglich von der AfD eingeführt. Andere haben es übernommen. Wahrheit ist, was man als Wahrheit verkündet. Tatsachen und elementare Logik werden negiert. Das ist jetzt auch in den Altparteien und der politischen Mitte angekommen. Jedoch in den verschiedenen Parteien sehr unterschiedlich. Die beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD, und vor allem erstere, haben es quasi perfektioniert. Sie versuchen nun eine Koalition zu bilden und stehen vor dem Dilemma Ihrer Lügen.
SPD
Sie traten mit Olaf Scholz, dem amtierenden Bundeskanzler, zur Wahl an. Es kam zu der Wahl, weil Scholz die FDP aus der Regierung geworfen hatte. Man lieferte sich daraufhin eine Schlammschlacht. Die FDP versuchte jeden erdenklichen Populismus, aber flog krachend aus dem Bundestag. Die SPD verlor ebenso und erreichte ihr schlechtestes Ergebnis jemals in der Nachkriegszeit. Man nahm dieses Ergebnis ohne jede Regung hin. Keiner übernahm Verantwortung. Scholz verabschiedete sich ohne große Worte. Die Parteispitze bleibt. Sie übernimmt sogar den Fraktionsvorsitz. Die Basis schweigt dazu. Jahre zurück wäre sowas undenkbar gewesen. Natürlich soll das Wahlergebnis einmal aufgearbeitet werden. Jedoch sind das bisher nur Worte und man wartet, bis es vergessen ist. Oder hofft, dass es vergessen werden wird.
Auf dieser Basis verhandelt man nun über einen Koalitionsvertrag, in dem man gleich Mehrfach das Grundgesetz ändern will. Die Aufhebung der Schuldenbremse ist dabei für die SPD kein Problem. Andere Inhalte schon. Ob die Basis es am Ende mitmacht, ist fraglich. Ob es parlamentarische Mehrheiten dafür gibt, man braucht auch andere Parteien, ist noch fraglicher. Gibt es sie nicht, bricht alles in sich zusammen. Und darüber hinaus soll man Friedrich Merz zum Kanzler wählen, dessen Wortbrüche schon nicht mehr zählbar sind und der mit seinem bayrischen Kollegen Markus Söder jahrelang Hetze gegen die SPD betrieben hat. Ein surreales Szenario. Man begründet es damit, dass dass durch politische Vernunft geboten sei. Die Situation in der Welt erfordert es. Es war auch vor den Wahlen geboten und wäre erforderlich gewesen, aber da spielte politische Vernunft keine Rolle. Erst nach der Neuverteilung der Macht sprechen nun die jetzt Mächtigen von notwendiger Vernunft. Vernunft, von der man bis dato nichts wissen wollte und von der man sagte, dass die Vernunft das genaue Gegenteil dessen ist, was man nach der Wahl verkündet. Kann das funktionieren? Ist das, was jetzt auf die schnelle entsteht wirklich Vernunft? Ist es eine Basis für eine stabile Regierung?
CDU
Noch schwerer trifft es die CDU/CSU. Jahrelang hatte man gegen Grüne gehetzt. ebenso gegen die SPD. Man musste taktische Positionen einnehmen. Das können immer nur Positionen sein, die die Regierung nicht hat. Folglich nahm man Kernkraft, Heizungsgesetz, Bürgergeld, Migration und vor allem die Schuldenbremse auf die Agenda. Damit machte man Opposition und war sich zu keinem Populismus, zu keiner Desinformation und zu keinem Wortbruch zu schade. Aber es gelang Friedrich Merz nicht deutlich Stimmen dazuzugewinnen. Er war gefangen zwischen der AfD auf der einen Seite und SPD, Grünen und Linken auf der anderen. Bewegt Merz sich nach rechts, betreibt er deren Geschäft und verliert an die AfD. Bewegt Merz sich nach links, betreibt er das Geschäft der SPD, Grünen und Linken. Was bleibt ist das Dazwischen, aber dazwischen ist nichts.
In einem letzten verzweifelten Handeln, in einem Rezo-Video würde man es „Kack-Move“ nennen, versuchte Merz einen bedeutungslosen Antrag mit der AfD im Parlament zu beschließen. Sein Kalkül, ein Kalkül der Verzweiflung, dass so Wähler der AfD zu ihm wechseln. Es funktionierte natürlich nicht und die CDU/CSU verlor weiter an die AfD und stärkte die Linke. 28% waren nicht, und können nicht der Anspruch der Union sein. Mehr schaffte man nicht, egal wie sehr man gegen die anderen hetzte und log. Die Vernunft blieb auf der Strecke. Zurück auf den Boden der Tatsachen kam man nach der Wahl zu der nüchternen Erkenntnis, dass keine der Versprechungen aus dem Wahlkampf finanzierbar oder umsetzbar ist. Was für ein Dilemma. Bereits wenige Tage nach der Wahl brach man erneut sein Wort und drehte sich um 180°: Schuldenbremse aufheben, gigantische Neuverschuldung, Grundgesetz dafür ändern, Heizungsgesetz bleibt, Kernkraft-Wiedereinstieg vom Tisch und noch ein paar Dinge mehr. Merz tat das, als wäre es selbstverständlich, und er tat es ohne jede Gewissensregung. So, als gehöre das zur Politik dazu und ist normalstes politisches Verhalten. Für viele in der CDU/CSU ist das sicher auch so. Für alle nicht und für die Wähler am wenigsten.
Man hatte es vor den Wahlen bereits geplant. Die Zustimmung der Landesverbände und der Basis zu einem Koalitionsvertrag wurde abgeschafft und einem Gremium mit Getreuen übergeben. Demokratisch ist das nicht, machtorientiert sehr wohl. Am Ende ist es auch die Zerstörung der Partei von Innen. Das Dilemma ist nun, dass es funktionieren muss. Es funktioniert, wenn die anderen Parteien mitmachen. Was die anderes Parteien machen, kann aber nicht die Union bestimmen. Man kann nur hoffen und sie bitten. „Sie bitten“ heißt, sie erpressen. Die anderen Parteien sind aber auch nicht völlig auf den Kopf gefallen; sie erpressen zurück. Am Ende finden sich Kompromisse. Es gibt aber keinen Spielraum mehr für Kompromisse. Merz hat jeden Spielraum aufgebraucht. Noch Kompromisse bei Bürgergeld und Migration, dann hat er jede seiner Positionen aufgegeben und betreibt die Politik der SPD, Grünen und Linken. Sein Lager wird das nicht mitmachen.
Fazit
Die neue politische Ruchlosigkeit der falschen Versprechungen, Lügen und Wortbrüche, gepaart mit Hetze, bewährt sich am Ende nicht. Merz hat die Wahl gewonnen. Es war ein schwacher Sieg und ein moralisch verwerflicher Sieg. Dazu hat er nur einen möglichen Partner, die SDP, die noch schwächer ist als er selbst. Die Ausgangssituation für eine stabile Regierung ist schlechter als vor 4 Jahren. Merz kann nur auf die Erfordernis der Stunde setzen, dass die Vernunft es fordert eine Regierung zu bilden, nur er diese Regierung wird, weil es keine Alternative zu ihm gibt. Die Vernunft gebietet ihn zu wählen, weil alles andere noch unvernünftiger wäre. Werden alle anderen es auch so sehen? Werden Grüne oder FDP noch im alten Bundestag helfen das Grundgesetz zu ändern? Wird er im neuen Bundestag dafür Mehrheiten bekommen und zu welchem Preis müssen sie dann erkauft werden? Wird man ihn zum Kanzler wählen oder gibt es Abweichler? Stimmt die SPD-Basis überhaupt dem Koalitionsvertrag zu? Macht seine Partei und seine Basis den Linksrutsch der Union mit? Lässt man ihn die fortlaufenden Wortbrüche durchgehen? Kann er sich auf Markus Söder verlassen, der nur darauf lauert ihn für seine eigenen Machtinteressen zu stürzen? Viele Fragen und keine Antworten, die Merz gefallen täten. Er tut als wäre er schon Bundeskanzler, aber er ist weiter davon weg als jemals zuvor. Wegen eines Dilemmas, dass er selbst geschaffen hat.
Fazit ist, dass diese neue politische Kultur der Ruchlosigkeit keine stabilen Verhältnisse schafft und unser Land schwächt. Wir müssen zurück zu mehr Anstand, weniger Hetze, weniger mit der Angst der Menschen spielen und weniger Lügen. Es sieht aber so aus, als wird das Gegenteil passieren.