Ostern 2020 befinden wir uns in Europa mitten in der Corona-Krise. Die Welt ist im Ausnahmezustand, was keiner bestreiten kann. Aber rechtfertigt dieser Ausnahmezustand auch das Ende alle Moral? Menschlichkeit, wie wir sie im Grundgesetz und der Menschenrechtserklärung definieren, als das höchste Gut, was für alle Menschen gleich ihrer Herkunft, Rasse und Nationalität gilt. Können wir uns diese Menschlichkeit nicht mehr leisten oder haben wir jetzt einfach nur einen guten Grund gefunden diese Menschlichkeit nicht mehr leisten zu müssen, weil wir sie eigentlich gar nicht leisten wollen?
Reihenweise sind derzeit die Politiker in den Medien zu sehen und verkünden, dass jedes Menschenleben zählt und vor der Wirtschaft kommt. Wirklich jedes? Die gleichen Politiker bleiben untätig, wenn auf dem Mittelmeer Flüchtlinge in einem Schlauchboot in Seenot sind. Man hat die Rettung wegen Corona eingestellt. Derzeit liegt das Rettungsschiff „Alan Kurdi“, das weiterhin tätig ist, vor Lampedusa, voll mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen. Dazu liest man, dass die Behörden verschiedener Länder entsetzt sind, dass man jetzt Flüchtlinge auf dem Mittelmeer rettet und die Einfahrt in einen sicheren Hafen verweigern. Was wäre die Alternative zu „die Flüchtlinge nicht gerade jetzt retten“? Die einzige Alternative wäre, die Flüchtlinge ertrinken zu lassen. Genau das passiert derzeit auch. Drei Schlauchbote mit jeweils ca. 250 Flüchtlingen sind vor Malta in Seenot. Die angerufene zuständige Seerettung tut gar nichts, sie hat die Arbeit eingestellt. Ein Boot ist bereits untergegangen und vermutlich sind 250 Menschen ertrunken. Das sind die einen Meldungen, anderen dementieren das. Was stimmt, wissen wir nicht. Aber Flüchtlinge sind weiterhin auf dem Mittelmeer, das wissen wir alle schon. Und dann hören wir wieder in den Medien unsere Politiker mit den Worten „jedes Menschenleben zählt“. Offensichtlich aber nicht jedes, denn es kommt wohl darauf an, ob das zu rettende Menschenleben die richtige Staatsbürgerschaft hat.
War das vor Korona anders? Nein, es war nicht viel anders. Man rettete genauso widerwillig und man war genauso unsolidarisch mit den unter den Flüchtlingsströmen am meisten betroffenen Ländern, wie man es derzeit ist. Deutschland kann sich überwinden 50 Kinder aus einem griechischen Flüchtlingslager aufzunehmen. Mehr würde uns überfordern. Das ist weniger als wir an Corona-Patienten aus anderen EU-Ländern aufnehmen.
Ein Blick auf das Völkerrecht
Als die Wiege des Völkerrechts, als seine Entstehung, gilt der Friedensvertrag zwischen Ramses dem Großen und den Hethiter König Hatusili am Anfang des vorchristlichen 18. Jahrhunderts. Viel interessanter als der Vertrag selbst, ist aber der Schriftverkehr der beiden Könige in den Friedenszeiten nach diesem Vertrag. Gegenseitig pries man den Frieden als eine Wohltat für die Menschen und die Wirtschaft. Im gleichen Zug zeigte man sich über die Grausamkeit des Krieges entsetzt und war sich einig, dass ein solches Leid nicht wieder über die Menschen gebracht werden darf. Beeindruckende Gedanken, die sich quer durch die Geschichte ziehen. Die Erkenntnis der beiden Könige ist keine andere als die, die wir auch 1648 im Frieden von Westfalen zur Beendigung des 30 jährigen Kriegs lesen oder in der Präambel der Menschenrechtscharta von 1949, die die Eindrücke des 2. Weltkriegs verarbeitet.
Menschen vergessen schnell. Spätestens eine Generation weiter sind die Gräuel von Krieg nur doch die Geschichten der Alten und alles ist halb so schlimm. Aber wir sind im 21. Jahrhundert ja eine mutierte Gesellschaft. Wir haben uns verändert und sind über diesen Punkt menschlicher Dummheit hinweg. Stimmt das? Schön wäre es, aber nichts deutet darauf hin. Wir sind uns selbst die nächsten, Solidarität zeigen wir am liebsten auf dem Papier und die Mächtigen sind skrupellos, wie eh und je.
Auf dem Mittelmeer gibt es Menschen zweiter Klasse
Mir persönlich wurde das Thema besonders bewusst als vor einem Jahr die „Viking Sky“, ein Kreuzfahrtschiff mit fast 1.400 Passagieren vor der Küste Norwegens in Seenot geriet. Sofort tat man alles erdenkliche um das Schiff und die Menschen auf ihm zu retten. Das natürlich zurecht, was ich nicht in Frage stelle. Ich twitterte daraufhin, dass man sich bei Rettungsaktionen für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer mit allen erdenklichen Mitteln, im Vergleich zur Viking Sky, sehr zurückhält. Das brachte mir einen Shit-Sturm ein und ich hatte kruzzeitig überlegt, den Tweet wieder zu löschen. Aber ist es nicht genau so? Gibt es nicht Menschenleben erster und zweiter Klasse? Die einen, für die wir alles tun, um sie zu retten, und die anderen, für die wir nur müde ein paar erzwungene Maßnahmen einleiten? Man kann es drehen und wenden, wie man will, es ist ganz offensichtlich so!
Auf dem Mittelmeer sterben Menschen. Männer, Frauen und Kinder. Sie ertrinken. Die genaue Zahl kennen wir nicht. Aber es sind über die Jahre jetzt mehrere zehntausende, wenn die Zahl nicht in Wirklichkeit noch viel höher ist. Die Menschen sollten natürlich nicht auf verrotteten Booten und hochseeuntüchtigen Schlauchbooten über dieses Meer fahren, was sicherlich richtig ist. Sie tun es aber dennoch. Die meisten nicht wissend, was sie hier eigentlich tun. Sie haben noch nie vorher ein Meer gesehen. Sie wissen nicht wie groß das Meer ist. Sie kennen die Schleuser nicht. Sie wissen schlichtweg nicht was sie tun. All das, weil sie verzweifelt sind. Sie haben keine Perspektive in ihrer Heimat normal zu leben. Deswegen begeben sie sich auf dem Weg woanders hin, wo sie hoffen, ein besseres Leben zu finden. Die Reise treten sie ohne irgendwelche Kenntnisse der Gefahren an. Manchmal auch trotz der Kenntnis, weil sie keine Wahl haben. Menschen sind sie trotzdem. Diese armen desillusionierten und im Leben verlorenen Menschen sind in der Seenotrettung nur Menschen zweiter Klasse. Das ist die bittere Realität. Rettet sie dennoch jemand, dann wird er als Menschenhändler und Schleuser tituliert und nicht selten auch juristisch belangt.
Muss das so sein? Die Politik hat keine Lösungen. Solidarität mit den betroffenen Mittelmeerstaaten in der EU gibt es nicht. Andere Lösungen gibt es auch nicht. Wenn es überhaupt welche gäbe, dann wiegelt man sie als zu teuer in der Umsetzung ab. Für dir Corona-Krise fließen die Milliarden hingegen ganz schnell. Das können wir uns für unseren Wohlstand leisten. Flüchtlinge zu retten, können, nein wollen wir uns nicht leisten, wenn es nur um die Menschen der zweiten Klasse geht. Auf dem Mittelmeer sterben nicht nur die Flüchtlinge, sondern die Moral stirbt mit ihnen. Und die westliche Welt lebt eine verlogene Doppelmoral.
Die Moral stirbt nicht nur auf dem Mittelmeer
Leider ist das Mittelmeer nicht der einzige Ort mit Menschen zweiter Klasse. Gleiches gilt auch für viele Flüchtlingslager. Wir schaffen es gerade einmal 50 Kinder in der Krise aufzunehmen. Und die trennen wir dann noch von ihren Eltern, was sicherlich ein zusätzliches Trauma für diese bereits traumatisierten kleinen Menschen darstellt. Flüchtlinge werden als Spielball der großen Politik und als Druckmittel genutzt. Und diese Aufzählung an negativen Beispielen zu Flüchtlingen, wie es moralisch nicht sein sollte, könnte man ewig fortführen.
Menschen zweiter Klasse sind aber auch die Menschen, die in ihrer Heimat bleiben, trotz einer hoffnungslosen Situation für ihre Zukunft, trotz Krieg, trotz wirtschaftlicher Notlage und trotz einer veränderten Umwelt, in der sie sich nicht mehr ernähren können. Auch diesen Menschen bieten wir konkret nichts. Wir bedauern sie nur in ein paar Nachrichten und Dokus am Rande unseres TV-Programms. Dabei ist die westliche Welt mit ihrem unbeherrschten Massenkonsum meisten Schuld an deren Misere. Wir sind verantwortlich für die Überschwemmung der Welt mit Schusswaffen, für den Klimawandel und für die meisten Konflikte in der Welt. Die westliche Welt ist es, die in ihrem Konsumrausch die weniger mächtigen Länder ausbeutet und ihnen für ihre Rohstoffe im Austausch keinen Wohlstand schenkt, weil man lieber selbst so reich wie möglich werden will.
Gibt es denn keine Lösung für das Problem?
Offensichtlich ist die Antwort auf die Frage „Nein“. Aber nicht, weil keine Lösung möglich wäre, sondern weil wir nicht wollen und der menschliche Charakter zu selbstsüchtig ist, um eine Lösung zu ermöglichen. Welchen Ansatz man auch durchdenkt, wir müssten Wohlstand an andere abgeben. Das ist der Punkt, der unmöglich ist. Offensichtlich nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich und individuell. Es ist im Wesen des Menschen nicht programmiert. Wir folgen einer anderen Psychologie. Die überwiegende Mehrheit der Menschen ist für Helfen, aber will ebenso keinen eigenen Wohlstand einbüßen. Ein Widerspruch in sich, wie so viele Widersprüche, wenn es um humanitäre Hilfe geht. Wir wollen, aber es darf nichts kosten. Wir wollen, aber es dürfen keine Flüchtlinge ins Land kommen. Wir wollen, aber es geht nun mal nicht. Geht es wirklich nicht? Ist ein wenig weniger Wohlstand so schlimm? Sind mehr Migranten so schlimm? Wenn es so schlimm ist, dann sollten wir aufhören von Menschenrechten und unserem guten Willen zu reden. Wir sollten dann einmal ehrlich werden und ganz klar sagen, dass wir eine Auswahl darüber treffen, wer Mensch im Sinne der Menschenrechte ist und wer es nicht ist. Und dass wir diese Auswahl nach Herkunft, Religion, Rasse, Geld und auch mal rein zufällig treffen, wobei die Menschenrechte dabei nur leere Phrasen sind, die niemanden interessieren, weil wir nichts von unserem Wohlstand abgeben wollen. Das wäre dann wenigsten ehrlich. Somit würden wir wenigstens die Wahrheit sagen, anstatt uns neben fehlender Moral auch noch der Schönlügerei der Wahrheit schuldig zu machen. Auf Twitter schrieb jüngst wieder einmal jemand, dass es ihn traurig macht Mensch zu sein und er sich dafür schämt. Manchmal geht es mir auch so!