Spionage für Marketing ist der neue gesellschaftliche Standard!
Ich habe den Titel dieses Artikels nicht leichtfertig gewählt, sondern bin mir der Verantwortung des Vergleichs mit der Stasi sehr bewusst. Es ist in meinen Augen hier ein zulässiger Vergleich, weil er inhaltlich richtig ist. Und es ist auch deswegen ein zulässiger Vergleich, weil wir aus der Geschichte heraus eine Verantwortung dafür haben, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Gleich vorweg stelle ich die entscheidenden Fragen: Sind Stasi-Methoden jetzt gesellschaftsfähig? Wo ist der Aufschrei der Gesellschaft, den es 1989 gab? Wollen wir wirklich Big Data in der Form leben, wie wir es jetzt tun?
Ein kurzer Blick in die Geschichte
Unsere Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns bereits im Nazi-Staat gezeigt, was Überwachung und die Beschneidung der Grundrechte in der Praxis für die einzelnen Menschen bedeuten können. Die Spanne ging von Mobbing bis hin zum Tod in Konzentrationslagern. Auch die Stasi ist ein Teil der Deutschen Geschichte. Sie war der Staat im Staat der DDR und sammelte bis 1989 im großen Stil Informationen zu Bürgern ihres eigenen Landes. Laut Wikipedia gibt es 41 Millionen Karteikarten, mehr als doppelt so viele wie die DDR Einwohner hatte, 111 Kilometer Akten, ca. 1,85 Millionen Fotos und sogar an die 3.000 Filme sowie über 20.000 Tonbänder.
Die DDR war ein Unrechtsstaat. Die Grundrechte der Bürger auf freie Meinung, die Pressefreiheit und die Würde des einzelnen Menschen wurden von der Stasi auf abscheuliche Weise missachtet. Persönlich offenbart sich mir dieser Sachverhalt am eindrucksvollsten in der letzten Rede Erich Mielkes, wo er am Rednerpult steht und ins Mikrofon stammelt: “Aber ich liebe doch alle Menschen.” Die Scheinheiligkeit und der Hohn, mit dem die Führung der DDR auf die Bürger des eigenen Landes sah, haben sich in diesem einen Satz, wie kaum einen anderen, widergespiegelt. Das Volk war nicht der Souverän des Staates und der Staat diente nicht dem Volk.
Die Stasi überwachte und spionierte die Bürger der DDR systematisch aus. Man sammelte Informationen über quasi jedermann. In den gesammelten Informationen war alles über Privat- und Berufsleben, was man in Erfahrung bringen konnte, enthalten. Dinge wie die Namen von Bekannten und Freunden, wann man sich wo mit wem getroffen hat, was man wo mal gesagt hat, politische Einstellungen, sexuelle Vorlieben, Affären und viel mehr. Jeder Bereich des Lebens, wenn man ihn in Erfahrung bringen konnte, wurde dokumentiert. Die Stasi war ein Überwachungsapparat des Staates. Für den Einzelnen bedeutete das oftmals eine unmittelbare und mittelbare Einschränkung seines freien Lebens. Grundlage allem Drangsalierens war die Sammlung all dieser Informationen über die einzelnen Menschen.
Technischer Wandel
Die Stasi sammelte ihre Informationen mit Manpower. Sie leistete sich einen gigantischen Apparat von Mitarbeitern, ohne den sie nie diese Menge der Informationen sammeln und verarbeiten hätte können. Rechnen wir das Material einmal in Aktenschränke um, dann kommen wir auf ca. 50.000 Schränke. Nennenswerte digitale Verarbeitungsmethoden gab es noch nicht. Doch das sollte sich in den kommenden Jahren ändern.
Der Fortschritt in der Computertechnik und der Digitalisierung machte Dinge möglich, die vorher unmöglich waren, weil niemand sich die Manpower, die es in der analogen Welt hätte dafür bedurft, so wie es die Stasi tat, leisten konnte. Speicherplatz wuchs enorm und wurde Anfang des 21. Jahrhunderts so billig, dass sich das Sammeln von Informationen jetzt für fast jedermann durchführen lies. Man speichert heutzutage Unmengen an Daten einfach auf einer Festplatte. Ebenso sind die Computer schneller geworden. So schnell, dass fast jede Masse an Daten in kürzester Zeit automatisiert verarbeitet werden kann. Man brauch keine teuren Mitarbeiter mehr, die Material durchsuchen, indexieren, sortieren und ablegen. Die Computer machen das für uns.
Als ich im Herbst 2018 auf einer Veranstaltung referierte, stellte mir aus dem Publikum jemand die Frage, was ich denke, wie viel Speicherplatz es bei Google für gesammelte Daten von Nutzerverhalten gibt? Google verrät uns so etwas leider nicht. Spontan habe ich damals 25 Exabyte gesagt. Zur Verdeutlichung: 8 Bit sind ein Byte, 1.000 Byte ein Kilobyte, 1.000 Kilobyte ein Megabyte, 1.000 Megabyte ein Gigabyte, 1.000 Gigabyte ein Terabyte, 1.000 Terabyte ein Petabyte und 1.000 Petabyte sind ein Exabyte. Mit 25 Exabyte meinte ich also 25 Millionen Terabyte bzw. 25 Milliarden Gigabyte. Aktuell spekuliert man mit 70 bis 80 Exabyte einschließlich Sicherungskopien in Bezug auf Google. Also liege ich mit 25 Exabyte reine Daten, wenn vielleicht 2018 noch etwas hoch gegriffen, für 2020 durchaus im realistischen Bereich. In Aktenschränken, damit wir es mit der Stasi vergleichen können, sind das 10 Millionen Aktenschränke. Google hat damit eine 200 mal größere Datensammlung als die Stasi sie zu ihrem Höhepunkt hatte. Und natürlich nicht nur Google, auch Amazon, Facebook und Co haben solche Sammlungen.
Und um den Schrecken noch eines drauf zu setzen: Edward Snowden berichtete von einem geplanten Rechenzentrum der NSA, das inzwischen sicher realisiert wurde, mit einer Milliarde Terabyte, was 1.000 Exabyte Speicherplatz wären. Das nennt sich dann übrigens ein Zettabyte.
Was speichert man über uns und wie macht man das?
Die Frage nach dem “was man speichert”, kann man eigentlich mit einem Wort beantworten: Alles! Wenn wir online gehen, dann werden wir überwacht. Der Browser tut es, die Webseiten, die wir besuchen, tun es, die Apps tun es, das Betriebssystem tut es und unsere Endgeräte tun es. Die Techniken hierfür werden immer weiter verfeinert. Unsere Daten sind pures Geld wert und jeder will dieses Geld verdienen.
Die Idee dahinter ist diese: Unternehmen und Marketingagenturen wollen verdienen. Dazu müssen diese Unternehmen Produkte und Leistungen verkaufen. Das geht viel besser, wenn man den potentiellen Kunden bis ins Detail kennt. Würde ich als Hausierer die Straße herunterlaufen und ein beliebiges Haus ansteuern, dann weiß ich nicht, wer da wohnt. Ich biete irgend ein Produkt an, zum Beispiel Nachthemden für ältere Damen. Habe ich eine ältere Dame erwischt, dann war das Glück. Ansonsten hatte ich Pech und es wird mit Sicherheit kein Geschäft geben. Mein Erfolg ist also viel größer, wenn ich weiß, wer wo wohnt und ich ein passendes Produkt anbieten kann. Um so mehr ich weiß, desto passender wird mein Produkt und desto wahrscheinlicher mein Geschäftserfolgt. Nehmen wir an, die Person die in dem besagten Haus wohnt, hat gerade mit einem Bekannten telefoniert und dabei diesem erzählt, dass ihr der Ständer am Motorrad kaputt gegangen ist. Höre ich diese Telefonat ab, dann ist das wie ein Volltreffer für ein Geschäft. Sofort stehe ich mit dem passenden Ersatzteil vor der Tür. Das ist das Prinzip des Target-Marketings und diese Prinzip funktioniert auch bei ideologischer Beeinflussung. Bin ich eine PR-Agentur und habe zum Beispiel den Auftrag einer Partei eine Wahlkampfkampagne zu tätigen, dann bin ich viel erfolgreicher, wenn ich mich genau an die Gruppe der unentschlossenen Wähler, die ich genau kenne, richte. Und in dieser Gruppe spreche ich individuell jeden nach seinen Bedürfnissen an, die ich ebenso genau kenne. Daher kann ich jedem genau das versprechen, von dem ich weiß, dass das für die Person besonders entscheidend für das Wahlverhalten ist. Darum geht es bei Big Data.
Für die Umsetzung einer umfassenden Sammlung von personenbezogenen Daten mit anschließender Werbung oder Beeinflussung bedarf es dabei nur einer Voraussetzung: Man muss immer wissen, vor welchem Gerät genau welche Person gerade sitzt. Letzteres ist ganz entscheidend, denn nur so kann man die Person erreichen als auch korrekt die gesammelten Daten zuordnen. Es ist immer wichtig genau zu wissen, wer hinter einem Endgerät sitzt. Wie findet man heraus, wer hinter einem Endgerät sitzt und welche Endgeräte alle zu einer Person gehören? Das ist inzwischen nicht mehr schwierig. Man nimmt die IP-Adresse, man setzt Tracking-Cookies, Nutzerkonten ermöglichen es, Funktionen für App-Übergreifendes-Tracking gibt es standartmäßig, der Browser trackt, Apps greifen auf Kamera, Mikrofon und Kontaktlisten zu, individuelle Hardwarekonstellationen machen uns identifizierbar, der Schmutz auf der Kameralinse verrät uns und außerdem sind unsere Gesichter aus Bildern heraus sowieso schon biometrisch vermessen. Wenn wir unser Endgerät einschalten, dann wissen die Big Data Sammler, das wir es sind. Öffnen wir eine App oder eine Website, dann wissen noch mehr der Big Data Sammler, dass wir es sind. Und um es ganz klar auszusprechen: Das hier ist keine Übertreibung, sondern es ist die Realität!
Und was sammelt man jetzt über uns? Man sammelt das Nutzerverhalten, was wir im Internet suchen, was uns interessiert, unsere politischen Einstellungen, unsere sexuellen Vorlieben, die besuchten Webseiten, auch die Pornos, die wir gucken, unser Alter, wo wir wohnen, wohin wir reisen, wie wir uns bewegen, unsere Fitness, unseren Beziehungsstatus, medizinische Informationen, die Ärzte, die wir anrufen, mit welchem Freund wir wie viel telefonieren, unsere Chatverläufe und so weiter. Es gibt keine Grenzen. Wenn Sie morgens ihr Kind zur Schule bringen und mit anderen Eltern noch einen Smalltalk halten, dann zeichnet irgendwer auf mit wem sie da stehen, denn ihr Smartphone ist ganz nahe an dem der anderen Eltern in der Runde. Wenn Sie in einem Hotel übernachten, und neben ihrem Smartphone liegt das Smartphone einer Person, die nicht ihr Ehepartner ist, dann weiß jeder Big Data Sammler, dass sie eine Affäre haben. Steht Ihr Bett im Hotel zufällig so an der Wand, dass im Nebenzimmer ebenso auch so ein Bett an der Wand steht, und zwei Smartphones trotz getrennter Zimmer nah beieinander liegen, dann haben sie für Big Data Sammler ebenso eine Affäre und vielleicht zukünftig ein Problem zuhause, das sie erklären müssen. Und auch hier sage ich es noch einmal ausdrücklich: Das hier ist keine Übertreibung! Es ist die Realität!
Aber hier sammeln doch die Guten!
Fassen wir einmal zusammen: Die Unternehmen der Big Data Sammler haben Informationen, die 2.000 Mal umfangreicher als die der Stasi sind und dazu noch viel detaillierter, als die Stasi es sich jemals hätte nur im Traum vorstellen können. Das verrückte daran ist, dass wir das ohne weiteres mitmachen. Als 1989 der Umfang der Stasi-Aktivität ans Licht kam, war der Aufschrei groß. Bei Big Data gibt es keinen Aufschrei. Warum nicht? Wenn ich es jemanden frage, kommen Antworten wie: “Kann man eh nichts machen.” Oder: “Aber es sind ja die Guten und nicht die Stasi, die hier sammeln.” Oder: “Da passiert schon nichts, ich bin nicht beeinflussbar”.
Hätte jemand Erich Mielke gefragt, dann hätte er auch genau das geantwortet: “Wir tun es aber für den richtigen Zweck!” Und damit hätte er sich angemaßt, die Rechte des einzelnen Menschen für eine größere Sache einzuschränken. Überwachung als ein Verfahren zum Wohle der Menschen, basierend auf einer höheren Weisheit. War dem so in der DDR und hat die Stasi zu einem solchen Ziel beigetragen? Nein, sie hat das nicht! Und genau so argumentieren die Big Data Sammler. Wir machen das zum Wohle der Menschen und bringen so Fortschritt. Es ist die gleiche Argumentation wie einst bei der Stasi, nur dass es hier einige private Akteure sind und kein Staat, wenn wir die NSA einmal außen vor lassen. Würden wir die NSA und andere Geheimdienste auch noch mit einbeziehen, dann sind wir bei Stasi 2.0, der neuen Form der Überwachung. Und dann ist das Zeigen mit dem Finger auf China in Sachen Datenschutz eine Verkennung der Tatsachen über die Verhältnisse vor unserer eigenen Haustür. China tut es wenigstens ganz offen, während wir uns selbst belügen. Etwas weiter als China sind wir in der Tat schon, aber das bei uns die guten demokratischen Grundsätze beim Datenschutz gelebt werden, davon sind wir derzeit so weit weg wie von einer Reise zum Mars!
Fazit
Nehmen wir die 25 geschätzten Exabyte von Google, die 2.000 mal mehr Informationen als die Stasi seinerzeit hatte, und rechnen nochmal, dann bleibt als Ergebnis, dass der Konzern personenbezogene Daten über mehr als die Hälfte der Menschen auf der Erde gespeichert hat. Und das in einer Qualität, die um ein Vielfaches detaillierter und besser ist, als die Stasi es jemals geschafft hatte. Und neben Google haben das so noch zig andere Big Data Akteure ebenso über uns gespeichert. Gesellschaftlich kann das nicht so gewollt sein!
Big Data ist sicher in vielerlei Hinsicht etwas sehr wichtiges für den Fortschritt. Aber wir brauchen dafür klare Regeln. Regeln, die uns vor Missbrauch schützen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Big Data Sammler die Guten sind und es immer bleiben. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass unsere Daten dort absolut sicher sind und nie jemand damit Missbrauch machen wird. Und wir können uns auch nicht darauf verlassen, dass unser Staat uns im Zweifelsfall gegen Big Data Missbrauch schützen kann. Wer die Daten hat, hat die Macht. Die Stasi war Staat im Staat und genau so kann ein Big Data Unternehmen Staat im Staat werden. Soweit dürfen wir es erst gar nicht erst kommen lassen.
Big Data in der jetzigen Form ist eine Gefahr für unsere Demokratie. Wir müssen endlich aufwachen und das erkennen. Effektive Gesetze müssen erlassen und durchgesetzt werden. Das gilt auch für die Geheimdienste. Kein Geheimdienst, und auch keine anderen staatlichen Institutionen, darf ohne strikte Rechtsgrundlagen unsere Daten sammeln. Und gerade Geheimdienste müssen transparent arbeiten und, wo sie es aufgrund ihrer Tätigkeit nicht öffentlich können, vom Parlament ganz detailliert kontrolliert werden. Gerade auch Deutschland hat hier noch deutliche Luft nach oben.
Die immer wieder kommende Argumentation, dass man Big Data als Staat braucht, um effektiv den Rechtsstaat vor dem Terrorismus schützen zu können, stimmt nicht. Die letzten 15 Jahre haben sehr deutlich gezeigt, dass der Nutzen den Aufwand nicht annähernd gegenüber steht. Und es kann noch weniger sein, dass der Staat seine staatlichen Hoheitsrechte an die Big Data Sammler abgibt und man dort darüber entscheidet, wann ein Bürger gegen Recht verstößt und wann nicht. In Ansätzen haben wir das bereits: Social Media Giganten entscheiden willkürlich darüber, wer einen Account eröffnet und wann man ihn sperrt. Algorithmen oder bestenfalls angelernte Aushilfen entscheiden im Akkord drüber, ob jemand eine Meinungsäußerung tätigt oder Volksverhetzung betreibt, ob jemand eine Beleidigung begangen hat oder nicht und ob ein Bild Gewaltverherrlichung darstellt. Einspruch für den Betroffenen nicht möglich. Die Postings werden einfach gelöscht, wenn nicht gleich der ganze Account. Ein schneller effektiver Gerichtsweg gegen die Entscheidungen der Unternehmen ist nicht vorhanden. Nicht mal Hotlines für Beschwerden gibt es. Vor diesem Hintergrund ist die Zukunftsvision von Big Data Sammlern, die in die Führung unser Leben zu ihrem Vorteil eingreifen, ohne das wir uns wehren können, nicht so weit hergeholt.
Derzeit funktioniert Big Data weitgehend nach den Regeln der Big Data Unternehmen. Diese bestimmen die Regeln oder haben die Macht, sich nicht an bestehende Gesetze halten zu müssen. In der Zukunft muss der demokratische Rechtsstaat wieder seine Hoheitsrechte zurückgewinnen und die Regeln machen, durchsetzen und überwachen.