Ich kann nicht anders, ich muss zu Wirecard einen Artikel schreiben. Ich habe etwas in dieser Form noch nicht erlebt. Es handelt sich um ein DAX Unternehmen, das 123.570.000 Aktien im Umlauf hat und noch vor nicht all zu langer Zeit mit um die EUR 150,00 pro Aktie eine Marktwert von 20 Milliarden Euro aufwies. Von dort ging es im Sturzflug in die Insolvenz.
Wenn ich heute, einen Tag nach dem Antrag auf Insolvenz, einen Kurs von nur noch EUR 2,00 sehe und durchweg Artikel lese, dass alles bei Wirecard Betrug ist, dann bringt mich das ins Grübeln. Es ist ein Unternehmen, dass in der letzten testierten Bilanz aus 2018 über 2 Milliarden Euro Umsatz gemacht hat. Unter den Kunden sind Marktgiganten wie Ikea und ALDI und das Unternehmen hat innovatives Knowhow. Das war nicht alles ein gigantischer Betrug, vieles war schon real und ist es immer noch.
Eine Analyse
Ernst & Young (EY), die Buchprüfer von Wirecard, sprechen in einem Interview von einen schweren weltweiten organsierten Betrug, den man nicht erkennen konnte. Andere Analysten schreiben, dass die Aktie auch mit EUR 2,00 noch zu hoch bewertet ist und wieder andere, dass jetzt unsere Master und Visa Cards nicht mehr funktionieren. Zu lesen war auch noch etwas von einer Schande für den DAX und Deutschland. Solche Artikel sind natürlich das, was die Leser lesen wollen. Dafür schreibt man diese Artikel. Aber wie real ist das alles wirklich?
Nach dem Rücktritt von Markus Braun hat Wirecard nur wenige Tage später, am 26.06.2020, Insolvenz wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung beim Amtsgericht München angemeldet. Die Betonung dabei liegt auf “drohende”, was auch überall so berichtet wurde. Das heißt, dass derzeit noch keine Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung vorliegt. Sie ist aber wahrscheinlich, weil anstehende Bankenkredit wegen des fehlenden geprüften Jahresabschlusses nicht verlängert werden. Werden die Kredite fällig zur Rückzahlung gestellt, dann ist Wirecard zahlungsunfähig und überschuldet. Passiert ist dieses bisher aber nicht und das Unternehmen arbeitet normal weiter. Die Banken hatten letzte Woche noch erklärt, dass man die Entwicklungen weiter abwarten will. Das Wirecard so schnell die Notbremse gezogen und die Insolvenz beantragt hat, kam für alle Beobachter überraschend. Das Insolvenzverfahren muss dabei aber keineswegs das Ende für Wirecard, das jetzt überall beschrien wird, bedeuten. Das Insolvenzverfahren kann auch Möglichkeiten bieten, das Finanzproblem zu lösen und die Geschäfte weiterzuführen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Wirecard bis auf weiteres weiter arbeitet. Es werden Umsätze generiert und es wird Geld verdient. Ob man genug verdient, um Lösungen für das Finanzproblem zu finden, dass werden die nächsten Wochen zeigen.
Schauen wir einmal auf das, was man über den Betrug weiß. 1,9 Milliarden Euro waren “Luftbuchungen” und haben nie existiert. Wenn EY dabei von einem schweren Betrug spricht, dann stimmt das natürlich. Wer in solchen Größenordnungen eine Buchführung fälscht, der betrügt schwer. Das ist nun wirklich keine große Erkenntnis von EY. Und da es den ganzen südostasiatischen Markt betrifft, Wirecard in Deutschland sitzt etc., war es auch ein weltweiter Betrug. Ein derartiger großer, weltweiter Betrug ist immer organisiert und kann nicht von nur einer Person getätigt worden sein. Von daher hat EY natürlich recht. Die Weisheit liegt aber auf der Hand.
Luftbuchungen haben den Charakter, dass sich jemand ein Geschäft ausdenkt, alle Unterlagen dazu fälscht und in diesem Fall wohl auch die Bankbelege über die Zahlungen und Guthaben gefälscht hat. Wo liegt das Ziel dabei? Das Ziel ist, genau wie bei einem Diebstahl von Geld, immer sich zu bereichern. Organisiert wurde das ganze von dem Vorstandsmitglied Jan Marsalek, der sich jetzt auf den Philippinen befinden soll, und einiger für den Bereich Süd-Ost-Asien zuständiger Mitarbeiter. Wie haben diese Personen Geld verdient? Zum einen damit, dass Wirecard Aktien im Kurs gestiegen sind. Das ist zu vermuten. Zum anderen und vor allem flossen aber Provisionen, Gehälter und Kostenerstattungen für Geschäfte, die es nie gegeben hat. Der Erlös aus den Geschäften verblieb auf Konten in den Philippinen. Da der Vorstand in Deutschland, Jan Marsalek, involviert war, deckte dieser die Praxis. Vieles spricht dafür, dass er den Vorstandsvorsitzenden Markus Braun bis zum Schluss betrogen hat und dieser sich betrügen ließ. Ob Markus Braun selbst Bescheid wusste, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.
EY möchte ich persönlich nicht in die Haftung nehmen. Wenn Kontosalden und Bestätigungen von Banken gefälscht werden, kann man das nur schwer herausfinden. Es ist auch nicht die Aufgabe der Buchprüfer. Deren Aufgabe ist es die gelieferten Unterlagen auf die Richtigkeit und die ordentliche Verbuchung zu prüfen. Wenn sich darunter mit hoher krimineller Energie gefälschte Unterlagen befinden, dann ist das nicht feststellbar. Vielmehr ist hier der Vorstand von Wirecard das Gremium, das solche Sachen überprüfen muss. Wenn hier aber der Haupttäter sitzt, dann wird es schwer. Und dann ist ein Weg, wie der von Wirecard, leider vorgezeichnet.
1,9 Milliarden Euro kling viel und ist viel. Für einen DAX-Konzern dann allerdings doch nicht so viel. Volkswagen hat viel mehr im Dieselskandal verloren. Die Deutsche Bank schon mehrmals größere Summen im Investmentgeschäft. Mit welcher Moral und Methodik man Geld verliert, ist am Ende egal. Es gilt einzig “weg ist weg”. Wenn bei VW oder der Deutschen Bank so eine Summe verloren wird, dann ist das tragisch, aber nicht die Existenz bedrohend. Warum ist das nicht auch bei Wirecard so? Werfen wir einmal einen Blick auf die Zahlen von Wirecard:
Wenn man sich den Kassenbestand der Bilanzen von 2014 bis 2018 anschaut, dann stieg dieser kontinuierlich an. Mutmaßlich für die nicht bestätigte Bilanz 2019 auf über 3 Milliarden Euro. Darin sind die 1,9 Milliarden Luftbuchungen enthalten. Diese haben sich langsam über Jahre aufgebaut. Die mir einzig vorstellbare Variante ist die, die Luftbuchungen über Umsatzerlöse zu generieren. Daher müssen sich diese auch in den Umsatzerlösen dieser Jahre finden. Diese steigen auch in den Bilanzen 2014 bis 2018 und hätten für 2019 mutmaßlich deutlich über 2 Milliarden betragen. Dabei sind nicht jedes Jahr die 1,9 Milliarden darin enthalten, sondern die Summe kumuliert sich langsam über die Jahre. Ich würde vermuten, dass man den Betrug sehr früh in sehr kleinem Maße anfing und er sich langsam steigerte. Für 2019 dürfte das bedeuten, dass maximal 500 Millionen, vermutlich weniger, Luftbuchungen an Umsatz waren. Aber gehen wir einmal von noch mehr Betrug aus und rechnen unter dem Strich nur noch mit 1 Milliarde Umsatz. Das entspricht dem Umsatz aus 2016. Da hatte die Aktie einen Kurs von EUR 50,00 und unter dem Strich machte man 266 Millionen Gewinn.
Bleiben wir noch einen Augenblick beim Gewinn: Ein Teil des Asiengeschäfts und auch deren Kosten sind jetzt aus der Buchführung raus. Es bleibt der Restumsatz der Welt, der zum Teil etwas weniger gute Margen hat. Es bleiben also noch 1 Milliarde Euro Umsatz und höhere Kosten, insbesondere auch wegen Schuldzinsen, wenn man Fremdkapital aufnehmen muss. 266 Millionen Euro werden das dann nicht mehr, aber 75 bis 100 Millionen in jedem Fall. Das wäre ein gutes Ergebnis. Ein Unternehmen, dass 100 Millionen Euro Gewinn nach Steuern macht ist ein gutes Unternehmen. Von dieser Seite, wenn es nicht noch mehr Betrug als bekannt gibt, wäre der Umsatzeinbruch dramatisch, aber nicht die Existenz gefährdend.
Schauen wir jetzt auf die Passiva der Bilanz. Im Zeitraum 2016 bis 2018 ist das Fremdkapital von 1 Milliarde Euro um 3 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro gestiegen. Das passt zum Sachverhalt, denn man musste die inzwischen 1,9 Milliarden Euro, die es nicht real gab, mit denen man aber zu mindestens auf der Kostenseite arbeitete, finanzieren. Die Eigenmittel stiegen auch, aber in dem Zeitraum nur um 1 Milliarde Euro. Auch das passt zum Sachverhalt, da mutmaßlich Kostenpositionen dieser Luftbuchungen real beglichen wurden. Diese betragen aber natürlich weniger als die Umsatzerlöse selbst. Für 2019 muss man jetzt ein wenig spekulieren, was in der Bilanz, die EY nicht abzeichnen wollte, hätte stehen sollen. Mutmaßlich ein wenig verändertes Fremdkapital von gut 4 Milliarden und ein Eigenkapital von gut 2 Milliarden. Aus der Bilanz müssen jetzt 1,9 Milliarden Eigenkapital gestrichen werden. Das heißt, dass Gewinnrücklagen und Kapitalrücklagen nahezu vollständig weg sind. Grundsätzlich ist aber ausreichend Rücklage da. Es verbleiben dann vielleicht noch Rücklagen um die ca. 250 Millionen Euro. Dem ständen 4 Milliarden Euro Fremdkapital gegenüber.
Und da findet sich das Problem. Mit dem gezeichneten Kapital kommt man vielleicht noch auf 400 Millionen Euro Eigenkapital. Und dann braucht man noch 4 Milliarden Fremdkapital oder Kredite. Kredite, die keine bzw. nur teilweise Sicherheiten haben. Alles in allem gibt die Bilanz aber nur 2 Milliarden Kredite her. Mehr können Banken erst einmal nicht vertreten. Es fehlen also maximal 2 Milliarden Euro langfristige Finanzierung. Kann man die finanzieren und ist Wirecard das wert? Ich halte das jedenfalls nicht für ausgeschlossen.
Der Betrug wurde so lange wie irgend möglich aufrecht erhalten. Erst wenige Tage vor dem Auslaufen der Kredite des Unternehmens, die nur bei Vorlage einer von EY bestätigten Bilanz verlängert werden sollten, trat Markus Braun zurück und es wurde offiziell erklärt, dass 1,9 Milliarden Euro fehlen. Man verhandelte dazu mit den Banken und den Partnern, beantragte aber bereits wenige Tage später Insolvenz, wegen der drohenden Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit. Das musste man tun, weil man mit Maßnahmen, den erlittenen Verlust zu akzeptieren und die Finanzlücke zu finanzieren, bis eine Minute vor Zwölf gewartet hat. Damit war es zu spät.
Zeit kann man nicht zurückdrehen. Es war erst einmal zu spät für andere Optionen. Ist es nun endgültig zu spät oder gibt das Insolvenzverfahren Möglichkeiten? Zu den derzeitigen Aktienkursen kann man Wirecard komplett für unter 200 Millionen kaufen. Ein Investor, käme er mit 2 Milliarden Euro, könnte sich eine Mehrheitsbeteiligung erkaufen, wenn er das will, und das Unternehmen retten. 2 Milliarden sind bei den internationalen Investoren eine Summe, die klar vorstellbar ist, wenn sich das Engagement rechnet. Unter dem Strich werden Banken sich an einer nachhaltigen Rettung beteiligen und einige Millionen werden sich durch Sicherheiten oder private Haftungen begleichen lassen. Ein wenig kann die Liquidität reduziert werden. Bleiben ca. 1,5 Milliarden Euro, die man suche muss. Dieses für ein Unternehmen mit einem Gewinn von ca. 100 Millionen plus eine innovative Firma mit Knowhow, namhaften Kunden etc. Ich sehe das Ende von Wirecard noch nicht.
Ein anderes Szenario berichtete die Financial Times, die den Skandal lostrat. Die Artikel sind teils etwas widersprüchlich und lauten im wesentlichen, dass Wirecard seien gesamten Gewinn aus drei Kunden in Asien generiert, die Scheinfirmen sind. Letzteres ist zweifellos richtig, denn Scheinfirmen braucht man für so einen Betrug. Der Gesamtumsatz von Wirecard betrug 2 Milliarden Euro in der Bilanz 2018. Als Gewinn verblieben 400 Millionen Euro, also 25%, vor Steuern. Diese Zahlen lagen den Journalisten mutmaßlich zugrunde. Die Umsatzerlöse dieser drei Scheinfirmen betrugen 2018 vermutlich um die 350 Millionen Euro. Dann rechnete man diese Umsatzerlöse vom Gewinn ab und kam zu dem besagten Schluss. Diese Rechnung würde bedeuten, dass die Scheinfirmen immer nur Geld überwiesen und für diese keine Kosten für erbrachte Leistungen abgerechnet und überwiesen wurden. Wäre es so, dann verdient Wirecard mit seinem gesamten realen Geschäft gar kein Geld und die Firma muss aufgelöst werden. Allerdings bezweifele ich das aus mehreren Gründen: So ein Vorgehen ist sehr offensichtlich und fällt jedem weiteren Vorstand, den Mitarbeitern und den Buchprüfern sofort auf. Man kann das in der Form nicht über Jahre vertuschen und immer größer aufbauen. Ebenso hätten die Betrüger davon nichts gehabt. Die Betrüger wollten reich werden und ihr Kopf musste sie ausreichend bezahlen, damit alle ihm treu bleiben. Der Kopf des Betruges war erpressbar und konnte nur durch immer mehr Geldzahlungen, wahrscheinlichste Analyse, ohne verraten zu werden weiterleben. Daher halte ich ein Szenario, in dem der komplette Umsatzerlös der Scheinfirmen, ohne dass entsprechende Abrechnung erbrachter Leistungen mit realen Zahlungen an die Betrüger geflossen sind, für sehr unwahrscheinlich. Mutmaßlich flossen von den 1,9 Milliarden Luftbuchungen über die Jahre ca. 1,3 Milliarden reales Geld, dass sich als Kosten in der GuV befindet. Das könnte sich auf Konten bei dem ein oder anderen, das meiste wohl bei Jan Marsalek befinden. Es ist spannend, wie es sich am Ende wirklich verhält und was die genauen Details sein werden.
Eigentlich hat niemand ein Interesse daran, dass Wirecard seinen Geschäftsbetrieb einstellt und komplett aufgelöst wird. Dabei verlieren die Banken eine größere Summe als bei einer Rettung. Und auch den Großinvestoren geht es nicht anders. Black Rock ist mit 2,5% beteiligt. Das sind 3 Millionen Aktien, die kürzlich noch 450 Millionen Euro wert waren. Investoren könnten jetzt sehr günstig, für wenige Millionen 30% der Anteile kaufen, Wirecard übernehmen, dann mit einer guten Milliarde retten und sanieren. Der Kurs der Aktien steigt wieder auf EUR 30,00 im nächsten Jahr und man hat einen satten Gewinn. Hier sind viele Szenarien denkbar und es muss ja nicht immer “worst case” sein.