Mitten im Wahlkampf zur Bundestagswahl, wo gewöhnlich der Hashtag „LaschetKannEsNicht“ in allen erdenklichen Formen die Trends auf Twitter beherrscht und Rezo mit seinem Video neue Reichweitenrekorde erzielt, schafft es ein bundesweit recht unbekannter Innensenator Andy Grote (SPD) aus Hamburg die Trends zu dominieren. Und das mit seinem besten Stück!
Das hätte der Herr Grote so wohl auch nie gedacht und besonders glücklich dürfte er nicht damit sein. Nicht nur, dass er für viele Menschen im Netz und in Hamburg nun mit „Pimmel-Grote“ oder „Pimmel-Andy“ einen neuen Spitznamen hat, sondern vielmehr weil sein bestes Stück die SPD im Wahlkampf kaum nach vorne geschossen haben dürfte.
Man könnte jetzt viel Spot, Hohn und Sarkasmus zum besten Stück des Innensenators machen, aber es geht letztlich gar nicht darum, sondern um viel mehr, das dahinter steht. Um wichtige Fragen zu Social Media, die ungeklärt sind und von der Politik nie angegangen wurden, aber auch um Fragen über das Internet hinaus. Das möchte ich in diesem Artikel einmal beleuchten, und wer gehofft hat hier eine Abhandlung über die Länge des besten Stücks eines Innensenators zu lesen, wird leider enttäuscht.
Was ist überhaupt passiert?
Der Hamburger Innensenator Andy Grote hatte Ende Mai einen Tweet geschrieben, in dem er eine Party auf der Schanze kritisierte. Selbst hatte er einige Zeit zuvor auch Corona Regeln verletzt und eine Party mit 30 Personen in der Hafencity gefeiert. So berichten es die TAZ und der NDR. Ein Twitter-User kommentierte den Tweet des Innensenators dann mit den Worten: „Du bist so 1 Pimmel!“ Herr Grote fühlte sich beleidigt und stellte Strafantrag. Die Polizei ermittelte. Der mutmaßliche Täter wurde in St. Pauli lokalisiert und zur Wache geladen, auf der er auch erschien. Hier gab er an der Besitzer des Accounts zu sein, von dem der Kommentar aus gesandt worden war. Einige Zeit später gab es dann noch eine Hausdurchsuchung mit sechs Beamten, die Speichermedien und digitale Endgeräte als Beweismittel sicherstellten. Das ist die Ausgangsgeschichte. Die Hausdurchsuchung wurde auf Twitter öffentlich gemacht und schon ging es steil ab in die Trends für Andy Grote.
Ist das verhältnismäßig und dem Sachverhalt nach angemessen?
Niemand, um das vorwegzunehmen, muss es sich gefallen lassen sich Online oder in der realen Welt beleidigen zu lassen. Es ist das gute Recht jedermanns, auch eines Innensenators, gegen Beleidigungen vorzugehen. Wer das Internet und Social Media kennt, der weiß nur zu gut, dass Beleidigung, Hass und Hetze bis hin zu Bedrohung dort nicht selten vorkommen. Wer das Internet und Social Media kennt, der weiß leider auch, dass Beleidigung, Hass und Hetzte, selbst Bedrohungen, wenn sie von betroffenen Personen angezeigt werden, nur selten überhaupt ermittelt werden. Hausdurchsuchungen für einen „Pimmel“ sind eine große Ausnahme, falls es solche bisher überhaupt gab. Insbesondere Frauen, die häufiger als Männer von dieser Problematik im Netz betroffen sind, wird meistens nicht geholfen. Verfahren werden wegen Geringfügigkeit oder einem fehlenden öffentlichen Interesse eingestellt. Anders war es bei Herrn Grote. Hier schlug der Staatsapparat mit voller Wucht zu. Für die Hamburger Staatsanwaltschaft ist es klar, dass „Pimmel“ eine Beleidigung darstellt. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Renate Künast, musste in Berlin noch durch mehrere Instanzen klagen, um feststellen zu lassen, dass „Drecksfotze“ eine Beleidigung darstellt. Zuerst hieß es vom Landgericht Berlin, dass dieses gerade noch am Rand des hinnehmbaren für eine Politikerin wäre.
Eine andere Lebensrealität als Ausgangsbasis
Der Hamburger Innensenator Andy Grote ist zwar Mitglied des FC St. Pauli und hält sich für dieser Gegend nahe, als sei es sein Milieu. Tatsächlich ist er aber mental weit weg davon. In dieser Gegend, und bei weitem nicht nur dort, ist der Satz „Du bist ein Pimmel“ keine Beleidigung, sondern einfache Umgangssprache. Wenn man hier ansetzt, dann müssen auch Begriffe wie „Affe, Blödmann, Depp, Kackwurst, Idiot, Penner, Asi, Muschi“ und viele mehr geahndet werden. Ist das die Lebensrealität zu der wir hinwollen? Eine sterile Welt, in der jeder sprachlich vom Feinsten auftischt und in der auch die geringsten anrüchigen Wörter nicht mehr fallen? Und wenn sie doch fallen, dann kommt die Polizei? Ich glaube, dass dieses utopisch ist. Wenn wir in unsere Schulen gucken (Auch in der realen Welt gelten die gleichen Regeln für Beleidigung!), dann sieht der Umgang hier ganz anders aus. Bereits Kinder im frühesten Alter sagen Dinge zueinander, gegen die jeder „Pimmel“ nur noch zu einer lustigen Randnotiz wird. Wenn die Kinder dann Jugendliche werden und mit 14 strafmündig, sollen sie sich dann alle gegenseitig anzeigen? Oder zeigen es die Lehrkräfte an und die Erziehungsberechtigten entscheiden über Strafanträge? Das ist nicht lebensnah. Das ist nicht die Welt, die wir herstellen können, und auch nicht die Welt, die wir herstellen wollen.
Wir wollen die Welt auch nicht teilen, in diejenigen, die in der genutzten Sprache intellektuell und gebildet klingen, und in diejenigen, die frei nach Schnauze raushauen was geht, weil sie es rüder gelernt haben. Die einen zeigen dann die anderen nach Belieben an, weil sie als Eliten zusätzlich auch noch darüber entscheiden, was eine Beleidigung ist und was nicht. Und weil sie, anders als viele unsichtbare Menschen, die Stellung und den Intellekt haben sich zu trauen eine Anzeige bei der Polizei zu machen. Hier wird ein Andy Grote dann den Einwand erheben, dass jedermann bei der Polizei anzeigen kann. Das ist richtig, aber auch falsch zugleich. Viele trauen sich nicht, haben Angst davor, glauben nicht, dass ihnen geholfen wird, oder halten sich selbst nicht für so viel werthaltiges Rechtssubjekt diesen Schritt gehen zu dürfen. Menschen, die glauben von Natur aus diejenigen zu sein, die vom System als Täter verfolgt werden, und nicht diejenigen zu sein, die das System beschützt. Für diese Menschen haben wir kein Angebot, und ich prangere das System hier an!
Wir brauchen neue und klarer definierte Regeln!
Es spielt keine Rolle, ob jemand im Internet oder in der realen Welt von Beleidigung, Hass, Hetze oder Bedrohung getroffen wird. Niemand muss das hinnehmen und jeder hat das Recht sich dagegen wehren zu dürfen. Auch mit den Mitteln des Rechtsstaats. Diese Tatsache steht außer Frage. Und ab einer gewissen schwere, wenn Leib, Psyche oder Leben in große Gefahr kommen, muss auch der Staat seine Schutzfunktion für die Bürger ausüben und eingreifen. Aber das darf nicht nach Belieben und mal so und mal anders geschehen. In Hamburg gibt es Hausdurchsuchungen, anderswo wird ein Verfahren einfach eingestellt. Für einen Politiker wird der ganze Staatsapparat aufgefahren, für die Anzeige eines Durchschnittsbürgers tut man nichts. Dieser Eindruck wurde in Hamburg wieder einmal unterstrichen. Und wieder einmal kann man nur feststellen, dass das System einen Fehler hat.
Wir brauchen andere Regeln und grundlegende Änderungen:
- Staatsanwaltschaften müssen endlich unabhängig werden und die Weisungsbefugnis durch die Innenbehörden muss aufgehoben werden.
- Wir brauchen klare Regeln, welche Begriffe in welchem Kontext eine Beleidigung sind und was wann keine Beleidung darstellt.
- Minderschwere Beleidigungen und Verleumdungen sollten in das Zivilrecht verlagert werden und nicht mehr dem Strafrecht unterliegen.
- Wir brauchen neutrale Ermittlung unabhängig von Geschlecht, Ethnie und politischer Gesinnung.
- Wir brauchen mehr Personal in den Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden, damit jeder Delikt zeitnah und angemessen verfolgt wird.
- Wir brauchen mehr Richter mit digitalen Kompetenzen, die den Sachverhalt lebensnah verstehen.
- Wir brauchen Politiker mit einem lebensnahen Verständnis, die verantwortungsbewusste Rahmenbedingungen für die Online- und Offline-Welt schaffen.
Nein, wir haben das nicht bereits!
Wenn man sich mit dem obigen Katalog an die Politik wendet, dann erfährt man dort nur Ablehnung und die Erwiderung, dass dieses bereits weitgehend in der Praxis umgesetzt ist. Ich muss hier leider widersprechen. Nichts davon ist umgesetzt und das „Pimmelgate“ hat es einmal mehr in den Fokus gerückt. Wir haben keine unabhängigen Staatsanwaltschaften. Selbst die EU bemängelt das. Wir haben keine klaren Regeln wo die Grenzen zwischen Beleidigung und keiner Beleidigung verlaufen. Es gibt keine neutrale Ermittlung, sondern es wird in vielen Fällen unterschieden, wer das Opfer ist, welchem Geschlecht, politischer Gesinnung und Ethnie es angehört, welches Bundesland zuständig ist und so weiter. Das beeinflusst die Ermittlungen oder entscheidet darüber, ob überhaupt ermittelt wird. So sieht es leider oftmals in der Praxis aus. Damit will ich nicht den Polizei- und Staatsanwaltschafts-Apparat diffamieren. Viele machen dort einen vorzüglichen und engagierten Job. Aber es gibt zu viele dieser sogenannten „Einzelfälle“, die keine Einzelfälle sind und wo nicht neutral ermittelt wird. Und noch mehr Fälle, wo Einfluss aus der Politik genommen wird, der trotz der Transparenzidee der Demokratie nicht öffentlich sichtbar wird.
Wir haben auch zu wenig und unzureichend ausgebildetes Personal in der Justiz und in den Ermittlungsbehörden. Wir brauchen Personal, dass in einer lebensnahen digitalen Welt zuhause ist und nicht Twitter, Facebook, Instagram & Co. nur aus den Erzählungen anderer kennt. Und wir brauchen endlich Politiker, die nicht nur ein Interesse für Arbeitsplätze schaffende Großindustrie haben, sondern auch die digitale Welt in Deutschland nach vorne bringen. Wir sind eines der Schlusslichter in Europa im Ausbau mobiler Netze, WLAN, schnellem Internet und flächendeckender Versorgung. Und auch beim Schutz der Bürger in der digitalen Welt haben unsere Politiker keine Konzepte noch zeigen die wenigsten überhaupt Interesse dafür. Die digitale Welt ist aber die Zukunft und kein vorübergehendes Modephänomen. Das muss endlich verstanden und drauf muss das Land ausgerichtet werden. Angefangen bei den Schulen bis hin in jede Verwaltung, auf technischer wie auf gesetzgeberischer Ebene.
Fazit
Auch das „Pimmelgate“ wird keine Veränderungen bringen. Politik und Bürger haben sich weit voneinander entfernt und leben in verschiedenen Realitäten. Über die Digitalisierung wird in der Politik viel gesprochen, aber wenig dafür gemacht. Dafür wird um so lauter geschrien, wenn ein Politiker im Netz beleidigt wird. In den Parlamenten hingegen verhält man sich untereinander kaum besser, und Hass und Hetze gehören zum Alltagsgeschäft. Ebenso wirft man mit Fakenews nur so um sich und empört sich im gleichen Atemzug über die Lügen der anderen. Einig wird man sich nur darüber, dass Twitter, Facebook, Instagram & Co. eine Gefahr für die Demokratie sind. Es treiben sich dort, so glaubt man, nur einige böse ausländische Bots und eine Horde vorwiegend linker Menschen herum, die die Marktwirtschaft abschaffen wollen und in keiner Weise die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Genau hier irrt die Politik und diese Verhältnisse ändern sich. Aber leider nur langsam. Daher werden vorerst gerade Frauen auch weiterhin im Netz Opfer von Hass, Hetze und Bedrohung werden, ohne dass auch ein „Pimmel“ in Hamburg etwas daran ändern kann.