Im Wahlkampf geht es immer hoch her, aber ich habe dieses Mal das Gefühl als ginge es um mehr als bei allen vorherigen Bundestagswahlen. Ich empfinde den Wahlkampf als anders als sonst. Da ist der Abtritt von Angela Merkel als Bundeskanzlerin nach 16 Jahren. Man mag zu ihr gestanden haben, wie man will, aber es ist für die deutsche Politik ein Einschnitt. Dazu bringt der Zerfall der CDU und die Panik der Partei die Macht zu verlieren und im Nichts zu verschwinden die Schärfe der Verzweiflung in den Wahlkampf hinein. Und dann gibt es natürlich die Klimabewegung, die mit der These kommt, dass wir die letzte Bundesregierung wählen, die im zeitlichen Sinne noch Maßnahmen treffen kann die Klimakrise abzuwehren. Das sind andere Umstände als bei der Wahl 2017.
Ich möchte in diesem Artikel einige Gedanken zur Wahl, die sich in meinem Kopf bewegen, publizieren. Zuallererst möchte ich mich aber klar zur Demokratie bekennen und jeden, der das hier liest, aufrufen zu wählen, egal was er wählt. Ich habe in Medien Bürgerstimmen gehört, die in ihrer Unzufriedenheit nicht wählen oder ihre Stimme aus Protest ungültig machen wollen. Persönlich halte ich das nicht für sinnvoll und nicht hilfreich für die Demokratie, auch wenn ich den Wunsch nach Protest nur zu gut verstehen kann. Protest ist meines Erachtens besser damit ausgedrückt, dass man eine der kleinen Parteien wählt, als dass man gar nicht wählt.
Respekt vor den Kandidaten
Unabhängig der Befähigung und aller Eigenschaften, habe ich Respekt vor jedem, der sich für eine Bundestagswahl aufstellen lässt und insbesondere für die Spitzenpositionen kandidiert. Der zeitliche und auch gesundheitliche Einsatz einen Wahlkampf zu führen ist sehr hoch. Dazu kommen Kritik, Hass, Hetze und Anfeindungen sowie heftige Diskussionen über andere politische Ansichten oder Vorstellungen. Das auszuhalten ist mehr als nur eine Herausforderung. Wer das schafft, der hat hierfür meine Anerkennung.
Ich denke auch viel darüber nach, wie dieser oben beschriebene Stress von Spitzenpolitikern verarbeitet wird und welche Veränderungen oder psychologischen Abwehrverhalten es auslöst. Sich alle Anfeindungen zu Herzen nehmen kann man nicht. Tut man es, dann ist der Burnout vermutlich sehr schnell erreicht. Doch wie geht man dann damit um, ohne dass man jede Form der Reflektion verliert und nicht mehr erkennt, wo Kritik an der eigenen Position wirklich fundiert ist? Ich glaube, dass hier einige Politiker in ein Abwehrmuster verfallen, dass Realität und Reflektion ausblenden. In manchen Fällen scheint es noch darüber hinauszugehen und ein Bewusstsein für Fakten und elementare Logik in der Argumentation verschwindet ganz. Der Bürger nimmt dieses dann als Abgehobenheit und Arroganz wahr. Vielleicht steht dahinter nur der psychische Überlebenskamp in einer Branche, in der man diesbezüglich nicht viel gewinnen kann. Und hier habe ich aufrichtigen Respekt, dass jemand sich das antut.
Social Media und traditionelle Medien
Die Zeiten wandeln sich definitiv. Informationen zu Parteien, Politik und Kandidaten gibt es schon lange nicht mehr nur noch von den traditionellen Medienhäusern in Fernsehen, Radio und Zeitung. Social Media und Internetblogs gewinnen immer mehr an Reichweite und übertreffen mittlerweile viele der alten Medienunternehmen. Ein Youtuber wie Rezo schafft dabei Reichweiten, die die Bildzeitung schon lange nicht mehr erzielt. Dabei ist festzustellen, dass nahezu alle Medienhäuser nicht die Reichweiten im Internet erzielen, die sie einst im Printbereich hatten. Im Wettbewerb mit quasi jedermann sind sie, trotz der Finanzstärke, nicht in den Reichweiten-Kategorien, die man in der alten Welt hatte.
Ich halte die viel gehörte Kritik über die Qualität von Journalismus und Fakenews, die jedermann ins Internet stellen kann, für zu eindimensional. Die Wahrheit ist meines Erachtens hier viel komplexer. Fakenews, Hass und Hetze gibt es ebenso in den traditionellen Medienunternehmen und es gab sie dort auch schon vor dem Internet. Das gilt auch für “schlechten Journalismus”. Nichts davon ist eine Erfindung, die es erst mit dem Internet gibt. Ein Artikel, gleich wo er veröffentlicht wird, ist immer so gut, wie wahr die darin enthaltenen Informationen sind. Es kommt nicht darauf an, ob der Autor von Beruf Journalist ist, dafür Geld bekommt oder was auch immer. Es kommt nur drauf an, ob der Artikel gut recherchiert, belegt und richtig ist. Wer es für wen schreibt ist egal. Einzig die Fakten machen es aus.
“Fakten” sind auch ein Punkt, über den ich viel nachdenke. Dafür gewählt zu werden leugnen Politiker Fakten gerne. Die Wahrheit ist immer relativ und es gibt verschiedene Sichtweisen. Das ist leider Quatsch! Das stimmt nur bei philosophischen Themen und Zukunftsvisionen. Wenn es um reale Dinge geht, dann sind diese so, wie die Fakten es belegen, und nicht anders. Da gibt es keine relativen Wahrheiten. Wer keine Windräder und keine Solar-/Photovoltaikanlagen baut, der fördert nicht die erneuerbaren Energien. Wer rassistische Äußerungen macht ist Rassist. Wer eine Beraterfirma in der Karibik mit Konten in Lichtenstein hat und an der Steuer vorbei Provisionen aus windigen Geschäften vereinnahmt, der ist korrupt. Wer Bundesminister ist und seinen eigenen Wahlkreis oder sein Bundesland bevorzugt, der bricht seinen Amtseid und betrügt das restliche Land. Da gibt es kein relativ. Wenn die Fakten es so belegen, dann ist das so.
Wenn die Fakten dann ein Desaster für den Politiker sind, der im Wahlkampf ist, wird es schwierig damit umzugehen. Das verstehe natürlich auch ich. Aber ist Schönreden und die Wahrheit als Lüge darstellen wirklich die einzige Option an dieser Stelle? In jedem Fall kann sich hier kein Politiker beschweren, wenn er von den Bürgern, die mit dem Internet jetzt ein Medium haben ihren Unmut Öffentlichkeit zu verleihen, dafür mit einem Shitsturm belegt wird.
Fehlender Anstand und die Gier nach Wohlstand
Vorgesagtes muss zwangsläufig nach der Frage des Anstands in der Politik führen. Nicht weil wir idealtypische, fehlerfrei funktionierende Politiker wollen. Die gibt es nicht und die wird es nie geben. Aber alles hat seine Grenzen. Wenn Politik in das Licht der Käuflichkeit gelangt, wenn die Nebeneinkünfte die Gehälter der Haupttätigkeiten um Längen übersteigen, wenn Versagen und Skandale die Regel werden, wenn Intransparenz herrscht und jede unliebsame Wahrheit vertuscht wird, dann schwindet das Vertrauen der Bevölkerung. Das ist nicht schwer zu verstehen. Und die Politik scheint hier in einem Kreislauf gefangen. Selbsbereicherung, Maßlosigkeit und Unvermögen führen zu Fehlern, die wiederum zu Lügen und Vertuschen, das wiederum zu Unmut der Bevölkerung und dieser drückt sich dann in Beschimpfungen, Hass und Hetze aus, die durch Verdrängung der Realität seitens der Politiker bewältigt werden.
Meines Erachtens kann dieser Kreislauf nur unterbrochen werden, wenn mehr Anstand und mehr Transparenz in die Politik einkehrt. Alle Nebeneinkünfte einschließlich beteiligte Firmen etc. müssen offengelegt werden. Keine geheimen Absprachen, Unterlagen und E-Mails mehr. Wir brauchen eine neue Kultur in der Politik!
Wir brauchen diese neue Kultur aber nicht nur in der Politik. Wir brauchen das auch im Volk. Viele Stimmen gehen zum Beispiel nicht zu den Grünen, weil die Menschen Angst haben durch Klimaschutzmaßnahen ihren Wohlstand zu verlieren. Viele Stimmen gehen zur AfD (leider!), weil Menschen unseren Wohlstand nicht mit anderen auf der Welt teilen wollen. Das ist ein Problem und das Problem fängt an bei der Definition von Wohlstand. Für die meisten ist eine Villa mit einem versiegelten Grundstück, wo kein Grün mehr zu sehen ist und kein einziges Unkraut wächst, ein Ziel. Dafür sind sie bereit von morgens bis abends unter größten Stress zu arbeiten. Ein bescheidenes, aber ruhiges Leben mit wenig Stress, aber viel Zeit, ohne Villa und Reichtum, wäre für sie Versagen. Hier muss ein Umdenken her. Wir müssen Wohlstand neu definieren und wir müssen lernen nicht den Wohlstand der anderen zu zählen und als Maß dessen zu nehmen, was uns ungerechterweise nicht gegeben ist. Neid ist ein Feind in der Seele, der die falschen Dinge lehrt.
Das Spektrum der Demokratie
In keinem anderen Wahlkampf, an den ich mich erinnern kann, wurde “links” und “rechts” derartig scharf thematisiert. Die einen warnen vor den anderen und manche Tabus werden überschritten. Schnell fallen die Worte, das jemand kein Demokrat ist und die Demokratie abschaffen will. Was soll man davon halten? Tatsache ist, dass Demokratie auch mit abweichenden Meinungen von der eigenen Meinung umgehen muss. Das auch dann, wenn die abweichenden Meinungen weit am linken oder rechten Rand liegen und für den Demokraten der Mitte schwer zu verdauen sind. Das gilt auch dann, wenn jemand Fragen zur NATO aufwirft und einen Ausstieg aus der Organisation diskutieren will, und auch dann, wenn das Asyl- und Flüchtlingsrecht ebenso angegangen werden.
Es ist eine Tatsache, dass nicht alle Menschen in unserem Land Flüchtlinge Willkommen heißen, es gibt Überfremdungsängste, es gibt Rassismus, Frauenfeindlichkeit und vieles mehr. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es Ansätze das Leistungsprinzip in Frage zu stellen und zu einem Sozialprinzip zu wechseln, andere Auffassungen zur internationalen Sicherheitspolitik und zu anderen Politikfeldern. Die Demokratie muss das aushalten. Nur die Meinung zu erlauben, die der Mitte entspricht, ist keine Demokratie. Wir müssen uns nicht nur die abscheulichen und verwerflichen Meinungen der Ränder anhören, wir müssen diese auch ernst nehmen und darauf reagieren. Wenn es der mehrheitliche Konsens der Demokratie ist, das wir die radikalen Positionen der linken und rechten Seite nicht haben wollen, dann muss die Demokratie Maßnahmen ergreifen, um dem Extremismus zu begegnen. Leider mangelt es daran und vielen kommt es so vor, dass man zwar vor rechts wie vor links warnt, aber dann auf dem rechten Auge doch etwas blind und untätig ist. Ob es so ist, sei dahin gestellt. Aber die Mitte muss gegen Extremismus tätig werden, sonst fressen die Ränder sie von beiden Seiten langsam auf.
Zu den inhaltlichen Themen
Die Wahl steht vor allem im Zeichen des Klimawandels. Meiner persönlichen Meinung nach ist die Wahrheit hier ernüchternd. Ich glaube selbst, auch wenn ich anderes hoffe, nicht daran, dass noch ausreichend Zeit besteht eine bevorstehende Klimakrise abzuwenden. Mit über 420ppm CO2 in der Atmosphäre sind Grenzen überschritten. Die Eisschmelze in Grönland und des Permafrostbodens in Silberien, die brennenden Wälder überall etc. zeigen, dass Kipppunkte erreicht sind und dass es schlichtweg zu spät für den Erhalt eines Klimas, wie wir es bisher kannten, ist. Schaut man in die Programme der Parteien, dann ist eines hierzu klar: Keine einzige Partei hat in ihrem Programm auch nur annähernd die Maßnahmen, die notwendig wären, um das 1,5 Grad Ziel und das Pariser Klimaschutzabkommen zu einzuhalten.
Corona sehe ich persönlich nicht als Inhalt. Es ist ein temporäres Problem mit Fragen, die sich temporär stellen. Wer an der Macht ist, wird diese fragen lösen müssen. Ob das die Fragen sind, die wir heute auf dem Tisch haben oder die epidemische Lage Anfang Oktober nicht schon eine ganz andere ist, weiß dabei niemand. Wir wissen nur, dass die derzeitigen Regierungsparteien zwar sehr souverän und kompetent den Anfang der Krise bewältigt haben, dann aber sehr stark nachließen.
Neben dem Klima ist Wirtschaft das Thema und darunter fällt auch die soziale Gerechtigkeit. Hier geht es heiß her. Den Neoliberalisten nach brauchen wir mehr unkontrollierten Markt, damit die Wirtschaft wachsen kann und die bildungsschwachen Personen sollen Leistung bringen, wenn sie nicht an ALG II nagen wollen. Hingegen sehen andere es so, dass das Bruttosozialprodukt gerechter verteilt werden soll, die Wirtschaft besser reguliert und Reiche besteuert. Dass letzteres den Reichen nicht gefällt und sie dagegen Kampagnen machen ist selbstverständlich. Die Frage beantwortet das aber nicht: Würgt mehr soziale Gerechtigkeit die Wirtschaft ab? Meines Erachtens ist es egal, ob die Arbeitsplätze im Kohleabbau bestehen oder im Windräderaufstellen. Viele Branchen sind nicht mehr zeitgemäß und wir müssen akzeptieren, dass an diese Stelle andere Branchen und Berufe treten. Richtig ist sicher aber auch, dass einige Dinge, zum Beispiel der Wandel der traditionellen Landwirtschaft zu ökologischer Landwirtschaft, nicht ohne zusätzliche Kosten vollzogen werden können. Wenn wir das wollen, weil wir Arten-, Umwelt- und Klimaschutz wollen, dann müssen wir einsehen, dass es das nicht ohne steigende Preise gibt. Würden mehr soziale Leistungen und würden uns bei einer Vermögenssteuer alle Reichen und Unternehmen aus Deutschland davon laufen? Also ich bezweifele das ja…
Weitere Inhalte werden im Wahlkampf kaum thematisiert. Vor allem zwei nicht unwesentliche Punkte: Zum einen ist in allen Wirtschafts- und Zukunftsvisionen keine Klimakrise eingearbeitet. Diese findet faktisch in den Zukunftsberechnungen nicht statt. Dabei wird sie uns ganz andere und völlig neue, mutmaßlich sehr zerstörerische Lebensrealitäten bringen. Zum anderen ist die Abhängigkeit Deutschlands von der Welt ein Problem. Wir konsumieren mehr als unsere eigenen Ressourcen und Leistungen hergeben. Und unsere Versorgung ist in vielen Bereichen vom Ausland abhängig, mehr von China und Russland als den USA. Auch das müssen wir thematisieren und die Gefahren, die daraus entstehen, angehen. Die Zukunft muss nachhaltig werden. Das muss nicht unbedingt weniger Wohlstand sein, aber ein anderer Wohlstand, der auf eine andere Art erwirtschaftet wird. Wir können nicht auf ewig mehr verspeisen als wir an Ressourcen auf dem Planeten haben.
Schlusswort
Man könnte noch viele Gedanken zur Wahl und der aktuellen politischen Lage zu Papier bringen. Gerade in Digitalisierung und Bildung machen wir keine zeitgemäßen Schritte nach vorne. Auch das sind wichtige Inhalte, die immer wieder betont werden, aber wo es kaum Fortschritt gab. Deutschland ist in den Stillstand geraten. Wir müssen das Land wieder nach vorne bringen. Darin sind sich alle Parteien einig. Es obliegt den Wähler*innen zu entscheiden, ob das eine Aufgabe für die ist, die es 16 Jahre nicht geschafft haben, oder ob es einmal andere versuchen sollen? Das Wesen der Demokratie ist es, dass wir alle am Ende das Wahlergebnis zu akzeptieren haben, gleich ob es süß oder sauer schmeckt.